Marie-Luise Scherer, Die Bestie von Paris

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Marie-Luise Scherer, Die Bestie von Paris und andere Geschichten. Friedenauer Presse. 193 Seiten. 20,00€

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Martin Mosebach, der das Nachwort zu diesem Band schrieb, hat sie offenbar schon einmal live erlebt: „Wo sie auftrat, war sie unübersehbar“, schreibt er. „Ihre Eleganz war klassisch und wurde noch gesteigert durch ihre wilde Mähne, die weit entfernt davon war, eine ‚Frisur‘ zu sein. Augenblicklich begann sie zu reden, wie es Leute tun, die andere Menschen nur als Publikum betrachten.“ – Im Gegensatz zu ihrem öffentlichen Auftritt steht die fast gnadenlose Genauigkeit, mit der Marie-Luise Scherer in ihren Reportagen andere Menschen beobachtet. Hinter der außerordentlichen Qualität, die sie der literarischen Reportage verschaffte, steckte auch außerordentlich viel Arbeit. Als „Silbenproduktion“ hat sie ihre akribische Textarbeit selbst einmal bezeichnet. Manchmal brauchte sie für zwei gelungene Sätze, hat sie einmal erzählt, eine ganze Packung Zigarette und/oder eine Flasche Champagner.

Man muss ein aufmerksamer Spaziergänger sein, um im Gewimmel der Pariser Straßen die scheuen alten Frauen zu bemerken, die dort mit ihren Einkaufsnetzen unterwegs sind. Charles Baudelaire war ein aufmerksamer Beobachter. In seinen „Blumen des Bösen“ widmete er ihnen das Gedicht „Die Kleinen Alten“.

Sie trippeln wie Puppen ängstlich und scheu ihre Pfade (…) Ich sehe die schmachvolle Angst in den Blicken euch lauern,/ Niemand grüßt euch! Gebückt und zerbrochen und steif,/ seltsames Schicksal, schleicht ihr entlang der Mauern,/ Scherben der Menschheit, die für die Ewigkeit reif.

Nicht nur Baudelaire, auch Thierry Paulin und Jean-Thierry Mathurin waren aufmerksame Beobachter. Besonders hatten sie einen Blick dafür, dass die „Kleinen Alten“ für „die Ewigkeit reif“ seien. Um an den Inhalt ihrer abgegriffenen Portemonnaies zu kommen, verfolgten sie die gebrechlichsten unter ihnen bis in ihre Wohnungen und brachten sie dort um. Und zwar auf so brutale Weise, dass ihnen, noch bevor man sie fasste und klar wurde, dass sie oft zu zweit unterwegs waren, der Ruf anhing, „die Bestie von Montmartre“ zu sein.

Der einundzwanzig Jahre alte Paulin und der neunzehn Jahre alte Mathurin bewohnen im Hotel Laval das für 185 Francs teuerste Zimmer. Sie verfügen über einen Kleiderschrank und eine Dusche, fahren regelmäßig im Taxi vor. Sie sind ein wohlgelittenes, gut anzusehendes, immer geduschtes und gecremtes schwules Paar. Beide sind farbig.

Mit größtmöglicher Kühle, ohne psychologisierend nach Erklärungen zu suchen, rekonstruiert Marie-Luise Scherer die zu Anfang der 1980er Jahre begangene Mordserie, der 21 alte Frauen zum Opfer fielen. Als sie 1990 ihre Spiegel-Geschichte schrieb, waren auch die Täter schon tot. So konnte keine typisch hautnahe Marie-Luise-Scherer-Reportage entstehen wie bei den übrigen in diesem Band versammelten Paris-Geschichten. Stattdessen musste sie sich auf eine anstrengende Spurensuche begeben: Durch eine dicke Polizeiakte, vor allem aber zu den Schauplätzen der Morde und den Milieus, in denen die Täter verkehrten. Beide kommen aus prekären sozialen Verhältnissen; sie versuchen sich als Travestie-Darsteller, können ihren ausufernden Lebensstil und Drogenkonsum aber nur als Strichjungen – und schließlich eben durch Raubmorde bestreiten. Parallel zu den Biografien der Täter zeichnet Marie-Luise Scherer die ihrer Opfer nach, und zwar aller. So entsteht eine Fülle sprachlich überscharf gefasster und vielleicht deshalb umso ergreifenderer Porträts: Meist sind es aus dem Osten kommende, oft jüdische Migrantinnen, die in den schäbigsten Vierteln der Stadt den trostlosen Rest ihres Lebens verbringen, – ein „erschöpftes Übrigbleiben“.

Mademoiselle Iona Seigaresco hatte es eilig, eine alte Frau zu werden. Sie trug einen kleinen braunen Filzhut, den sie sich, ohne das Echo ihres Garderobenspiegels zu beachten, einfach überstülpte. Nur fest und tief musste er sitzen und das Gesicht wegnehmen. Sie ging stark gebeugt, was ihr jedoch nicht ersparte, die Obszönitäten am Boulevard de Clichy zu sehen, an dem sie wohnte.

Dem großen Joseph Roth ebenbürtig, erweist sich Marie-Luise Scherer in ihren Paris-Geschichten als eine Reporterin, die aus jeder Reportage ein literarisches Kleinod zu machen versteht. Dazu befähigt sie die fast unheimliche Schärfe ihres Beobachtens und die fast noch unheimlichere Präzision ihrer Sprache. „Was sie beschrieb“, bewundert Martin Mosebach im Nachwort ihren Realismus, „wurde wirklicher als wirklich.“ Als Leser wird man süchtig nach diesem Realismus.

WDR5 Bücher 20. Januar 2024