André Aciman, Damals in Alexandria

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André Aciman, Damals in Alexandria. Roman. Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork. Unionsverlag 2020. 384 Seiten. 14,95 Euro

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André, der Erzähler dieses autobiografischen Romans, ist knapp 14 Jahre alt, als er und seine Familie die ägyptische Hafenstadt Alexandria verlassen müssen. Es ist das Jahr 1964, die Spannung zwischen Israel und den arabischen Ländern wächst und, wie schon zuvor während der Suez-Krise, werden jetzt die letzten der in Alexandria ansässigen Juden von den arabischen Nationalisten enteignet und vertrieben. Eine Jahrhunderte alte Kultur geht zugrunde. – Kurz vor der Abreise wandert André noch einmal über die Seepromenade, setzt sich auf die Mauer und hört zu wie unten die Wellen gegen die Felsblöcke klatschen . 

Ich wollte am nächsten Abend wieder da sein und am übernächsten Abend und am überübernächsten auch, denn ich spürte, dass der Abschied so unsäglich schmerzte, weil ich wusste, dass es nie mehr eine Nacht wie diese geben würde, dass ich nie wieder abends an der Uferpromenade weiche Teigtaschen essen würde, weder in diesem Jahr noch in irgendeinem anderen Jahr, dass ich nie mehr die verwirrende, unvermutete Schönheit jenes Augenblicks erleben würde, in dem ich mich, wenn auch für einen flüchtigen Moment, auf einmal nach einer Stadt sehnte, von der ich nicht gewusst hatte, dass ich sie liebe.

Damit ist der Grundton vorgegeben, der diesen Roman durchzieht, der basso continuoder Wehmut. Oft – und sehr bewusst sich der Prosa Marcel Prousts anlehnend, beschwört der 1951 in Alexandria geborene Autor nicht nur seine eigene Vergangenheit, sondern auch die Geschichte seiner weit verzweigten Familie, die sich von 1905 an in der ägyptischen Hafenstadt niederließ. Sie sind sephardische Juden, die in den Jahrhunderten nach der Vertreibung aus Spanien in die anderen Mittelmeerländern auswanderten und von dort schließlich nach Alexandria kamen. Hier durften sie ihre ursprünglichen Nationalitäten beibehalten und bildeten mit der Gemeinde der hier bereits ansässigen sephardischen Juden sehr schnell die wohlhabende Unternehmer-Elite der Stadt. – Eine Schlüsselszene der Erzählung ist der hundertste Geburtstag der Urgroßmutter des Erzählers väterlicherseits, ein wahrhaft ausuferndes Familienfest. Denn alle sieben Kinder der alten Frau, darunter die Großmutter Andrés, sind mit ihren Ehepartnern und Kindern dabei. Nicht eingeladen aber sind seine Großeltern mütterlicherseits, denn gegen die gibt es, obwohl auch sie Juden sind, erhebliche ethnische Vorbehalte. 

Jeder weiß Bescheid. Diese Leute sind knickrige, bigotte arabische Vorstadtjuden, die den Sportwagen- und Cocktailbar-Lebensstil von Europäern imitieren. Aber sie sind Araber durch und durch.

Die Vorurteile richten sich nicht nur gegen die schon seit jeher in Alexandria ansässigen „arabischen“ Verwandten und damit auch gegen die sonstigen Araber, mit denen man nichts zu tun haben will, es sei denn sie sind Dienstboten. Auch untereinander sind sich die Familienmitglieder nicht grün: Die aus Italien und Frankreich zugereisten verachten die aus Istanbul kommenden „Türken“, halten sich selbst für etwas Besseres. Als ein Großonkel bei der Feier spöttisch aufdeckt, dass die eigentliche Nationalität des Erzählers die türkische sei, ist der schockiert.

Fast täglich hatte irgendjemand in der Familie von einer fernen, primitiven Welt namens Türkei gesprochen, in der Unwissenheit, Schmutz, Krankheiten, Diebstähle und Massaker gang und gäbe waren. Mir war nie der Gedanke gekommen, dass ich deswegen Türke sei. Ich fühlte mich besudelt, verspottet, verraten. 

Im Spiegel der Erinnerungen des Autors erzählt der Roman von den zahlreichen Zwisten des Clans. Dabei zeichnet er in oft turbulenten Szenen und mit genüsslicher Ironie präzise Porträts der einzelnen Familienmitglieder. Etwa von „Onkel Vili“, einem seiner Großonkel. Der ist so etwas wie der Prototyp eines alexandrinischen Juden, vielsprachig natürlich, weltgewandt, ein Frauenheld, als Geschäftsmann ebenso geschmeidig wie bei seinen politischen Präferenzen: Seine Begeisterung für den italienischen Faschismus hält ihn nicht davon ab, erfolgreich für die Briten zu spionieren. – Den roten Faden der Erzählung bilden jedoch die Erinnerungen des Autors an seine eigene Kindheit und frühe Jugend, sein Verhältnis zu seiner schönen, aber tauben Mutter und zu seinem eleganten Vater. Der elegische, aber nie nostalgische Ton dieser Erinnerungen nimmt den Leser von der ersten Seite des Romans an gefangen. – Die große Kunst André Acimans besteht darin, das Vergangene als etwas zwar Unwiederbringliches, aber nicht endgültig Abgeschlossenes darzustellen. Die Erinnerung hält es lebendig, so, wie der Anblick der Gartenmöbel den verstorbenen Großvater.Die Gartenmöbel waren zwar zum größten Teil neu gestrichen, aber was blieb, war nicht seine Präsenz, sondern dieses undeutliche Wohlbehagen, das ich empfunden hatte, wenn ich ihn in seinem sonnigen Garten suchte, in der Hoffnung, sein Rohrstöckchen zu hören oder seinen Billardqueue, sodass wir vielleicht Guaven pflücken konnten

WDR 3 Mosaik 28. Oktober 2020