Löhr sieht rot

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8. Band der Kommissar-Löhr Reihe

2015 Emons-Verlag

Als in seiner Stammkneipe eine junge Frau bedroht wird, mischt Löhr sich ein – mit tödlichen Folgen. Von nun an hat er die Killer selbst am Hals, die im Auftrag skrupelloser Investoren gnadenlos in Köln aufräumen. Löhr verliert seinen Glauben an die Gerechtigkeit und schließlich die Geduld. Konfrontiert mit ausufernder Korruption nimmt er das Gesetz selbst in die Hand…

Textbeispiel

  1. Kapitel

Sie war eine Erscheinung. Und sie musste zum ersten Mal hier sein. Löhr erkannte es an den Blicken der Stammgäste, die ihr auf ihrem Gang zum Tresen folgten wie einer exotischen Jagdbeute. Salvatore blieb zwischen zwei Zügen aus seiner Zigarette der Mund offen stehen, Löhr zählte durch den langsam herausquellenden Rauch hindurch seine schwarzen Zahnstümpfe. Es waren vier. Federico führte die Bewegung, die seine Espressotasse zum Mund führen sollte, nicht zu Ende. Die Tasse blieb auf halber Strecke in der Luft stehen, leicht zitternd wegen Federicos Tremor. 

Es war elf Uhr morgens, und bis auf Löhr saßen nur alte Männer im Café Zero. Der einzig junge war Andrea, der zwanzigjährige Sohn des Cafébesitzers. Er stand heute hinterm Tresen, und als die Frau, sie war vielleicht Mitte dreißig oder Anfang vierzig, ihn auf Italienisch fragte, ob sie mal die Toilette benutzen dürfte – »posso usare i suoi servizi?«, fiel ihm keine Antwort ein, weil seine ganze Aufmerksamkeit von ihrem Dekolletee in Anspruch genommen wurde.

            Als Andrea schließlich geistesabwesend nickte, war sie schon auf dem Weg in den hinteren Teil des Cafés. Sie hatte es ganz offensichtlich eilig, blickte sich aber, nachdem sie die Toilettentür gesehen hatte und darauf zuging, noch einmal um. Löhr, der wie alle anderen im Café der dunkelhaarigen Schönen mit dem stolzen Gang nachschaute, glaubte, so etwas wie gehetzte Wachsamkeit, vielleicht sogar einen Anflug von Panik in ihrem Blick zu erkennen. Doch in dem Moment, in dem sie in der Toilette verschwand und er seine durch ihren Auftritt unterbrochene Zeitungslektüre fortsetzte, hatte er die Beobachtung auch schon wieder vergessen.

            Bis eine Minute später der erste der beiden Typen auftauchte.

            Löhr wurde auf ihn aufmerksam, weil er beim Betreten des Cafés seine Zeitung streifte. Löhr ließ die Zeitung kurz sinken und sah, dass der Typ jemanden suchte. Das wäre nichts Besonderes gewesen, wenn der Mann ein Gast wie alle anderen im Café Zero gewesen wäre. Doch die Gäste im Zero truagen normalerweise keine Kanone im Hosenbund. Der feiste Typ mit dem teigigen Gesicht der Nachtmenschen aber gab sich noch nicht einmal besondere Mühe, sie unter seiner beigen Rentner-Windjacke zu verbergen. Im Gegenteil, er hatte den Reißverschluss seiner Jacke geöffnet, und  seine rechte Hand  umfasste ganz offensichtlich den Griff seiner darunter verborgenen Waffe. Er ging zwei Schritte ins Café hinein, registrierte mit einem leichten Schwenk seines Kopfes Löhr, die alten Männer auf der Fensterbank und Andrea hinterm Tresen, dann richtete sich sein Blick in den hinteren Teil des Ladens. Da erst fiel Löhr die schöne Frau wieder ein, die dort in der Toilette verschwunden war.

            Er faltete sorgfältig seine Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch vor sich. Da der Tisch gleich neben der Tür stand, bemerkte er aus den Augenwinkeln den zweiten Typ. Der war vom gleichen Kaliber wie der drinnen, ein bleicher Mittdreißiger mit zurückgegeltem dunklem Haar. Statt einer Windjacke trug er trotz der sommerlichen Temperatur einen zugeknöpften, halblangen schwarzen Ledermantel. Vermutlich, weil auch er eine Kanone darunter verbarg. Er machte keine Anstalten, das Café zu betreten, hatte sich davor aufgebaut, offenbar als eine Art Rückendeckung für den ersten Kerl, der jetzt ohne Hast in den hinteren Teil des Cafés ging, sich den Toiletten näherte und dabei tatsächlich seine Kanone aus dem Hosenbund unter seiner  Jacke zog, eine wuchtige Neun-Millimeter-Pistole einer Bauart, die Löhr nicht kannte.

            Löhr stand langsam auf. Was auch immer jetzt hier passieren würde, er hegte nicht die Absicht, es als bloßer Zuschauer zu erleben. Nicht, weil er ein Bulle war. Sondern weil das Café Zero zu so etwas wie seiner neuen Heimat geworden war, seitdem die »Germaniaschäenke« vor einem Jahr dichtgemacht und er das zum Anlass genommen hatte, mal eine Weile auf Kölsch zu verzichten und stattdessen Espresso, Wasser und ab und zu ein Glas Wein zu trinken. Und an den Orten, die Löhr zu seiner Heimat erklärt hatte, ließ er nicht zu, dass sich einer deplatziert benahm. Und zu deplatziertem Benehmen zählte Löhr, einer Dame vor der Toilette aufzulauern. Beiläufig näherte er sich der Theke so, dass der Typ vor der Toilettentür, der ihn natürlich sehen konnte, keinen Verdacht schöpfte.

            Der rappelte an der Klinke. Die Tür ging nicht auf. Der Typ trat einen Schritt zurück, schaute vergewissernd nach draußen, zu seiner Rückendeckung. Der Ledermantel vor der Tür nickte kaum merklich. Löhr war klar, dass er in wenigen Sekunden seinen Auftritt haben würde. Er wusste nur noch nicht, wie er diesen Auftritt gestalten sollte. Auf jeden Fall nicht mit seiner eigenen Pistole. Die lag in der obersten Schublade des Flurschranks in seiner Wohnung.

            »Kann man durch die Klofenster in den Hof?«, flüsterte Löhr Andrea hinter der Theke zu, der gedankenverloren Grappagläser polierte und von der ganzen Situation nichts mitbekommen hatte.

            »Waas?«, antwortete Andrea.

            Das Krachen der Damenklotür beendete das Gespräch. Löhr sah, wie der feiste Typ in der Windjacke mit der Schulter voran durch die Türfüllung brach und in der Toilette verschwand. Im gleichen Augenblick hörte man das Geräusch splitternden Glases. Andrea ließ vor Schreck das Grappaglas fallen. Die italienische Rentner-Besatzung des Café Zero erhob sich wie ein Mann von den Stühlen und starrte in Richtung des Lärms. Löhr war mit drei großen Schritten im Damenklo.

            Dort hatte die dunkelhaarige Schöne offenbar auf den hereinstürmenden Feisten gewartet und ihm den Klospiegel über den Schädel gezogen; der Typ war zu Boden gegangen und lag mit dem Gesicht nach unten auf den Fliesen, den blutenden Kopf umrahmt von einer Corona aus Spiegelsplittern, beide Arme von sich gestreckt. Er sah aus wie die Figur auf einem Heiligenbild. Was ihn von einem Heiligen unterschied, war die Neun-Millimeter-Kanone, die seine Rechte immer noch umklammert hielt. Schwer atmend, die langen Haare vorm Gesicht, stand die Frau über ihm, hielt den verchromten Rahmen des Spiegels noch in den Händen. Doch in dem Augenblick, in dem Löhr im Türrahmen erschien, hatte sie sich offenbar zur Flucht entschlossen, ließ den Rahmen fallen, sprang nach vorn und prallte mit Löhr zusammen. Er verlor das Gleichgewicht, kippte zur Seite, ging zu Boden, die Frau mit ihm, so, dass sie auf ihm lag. Löhr spürte ihr Gewicht auf sich und ihren keuchenden Atem in seinem Gesicht und roch durch ihr Parfum hindurch ihren Schweiß. Beides, der weiche Körper und die überwältigende Geruchskombination, weckten augenblicklich seine Begierde.

            In dem Augenblick, in dem die Frau sich von ihm erhob und wieder auf die Beine kam, stand der Typ mit dem schwarzen Ledermantel im Rahmen der Klotür. In der Hand hielt er eine doppelläufige abgesägte Schrotflinte, deren Mündungen sich abwechselnd auf die Stirn der Frau und auf Löhrs Kopf richteten.

            »Wo ist es? Gib es mir und du kannst gehen.«

            Der Typ sprach ruhig, mit einem rauen, leicht gutturalen italienischen Akzent. Seine Miene blieb dabei ausdruckslos. Die Frau starrte zurück, mit ähnlich ausdrucksloser Miene, breitbeinig über Löhr stehend. Der fand es in dieser Situation irgendwie unpassend, sich vom Boden zu erheben. Sein Blick wanderte vom Finger des Mannes am Abzug der Flinte hin zu dem Kerl in der Rentner-Windjacke. Der lag immer noch ein paar Handbreit von ihm entfernt mit dem Gesicht auf den Klofliesen. Langsam aber kam Leben in seinen Körper zurück. Löhr bemerkte ein Zucken in seinen Schultern. Wenn er es statt mit zweien mit einem Gegner zu haben wollte, war jetzt die letzte Gelegenheit.

            Er trat mit voller Kraft gegen das linke Knie des Ledermantel-Mannes, wuchtete sich gleichzeitig und ohne auf dessen Reaktion zu warten hoch, schmiss sich auf den feisten Kerl neben sich, riss ihm die Pistole aus der Hand, zielte in Richtung des Mannes mit der Schrotflinte und drückte ab. Er hatte richtig spekuliert. Die Waffe war durchgeladen gewesen. Die Energie des aufprallenden Geschosses warf den Mann in den Hinterraum des Cafés, er krachte mit dem Kreuz auf den Boden, aus seiner Flinte löste sich ein Schuss, doch die Schrotladung prasselte bloß in die Holzdecke. Löhr sprang auf den am Boden Liegenden zu, die Pistole auf seinen Kopf gerichtet. Sie sahen sich in die Augen. Der Mann atmete flach, das Projektil hatte ihn in die Brust getroffen und wahrscheinlich einen Teil seiner Lunge und die wichtigsten Herzkranzgefäße zerstört. In zwei Minuten würde er verblutet sein.

            »Es wird dir kein Glück bringen«, sagte er.

            »Was?«, fragte Löhr.

            Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich die Frau hinter ihm in Bewegung setzte, er spürte sie in seinem Rücken, spürte eine leichte Berührung, und dann sah er, wie sie barfuß, ihre Schuhe in der Hand, aus dem Café rannte.

            Löhr wiederholte seine Frage: »Was? Was bringt mir kein Glück?«

            Doch der Mann am Boden war zu müde, um darauf zu antworte. Seine Augenlider schlossen sich langsam.