Die verkaufte Republik

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Zwischenrufe aus WDR 3 2005 – 2017

Emons-Verlag 2018

Vorwort

Heinrich Mann betrachtete seine Essays als »Kampfartikel«, als geistige Waffen im Sinne der Aufklärung. Einen vergleichbaren Anspruch stellt sich der Sendeplatz der »Zwischenrufe« in den Kulturmagazinen des WDR 3, der sich in der Tradition der streitbaren kritischen Zeitdiagnose dieses Senders sieht. Ein Merkmal der »Zwischenrufe« ist, dass sie sowohl über den Tellerrand des rein Politischen wie der Kultur im engeren Sinne hinausschauen und in die Sicht auf die kommentierten Ereignisse umfassendere historische, soziologische und philosophische Perspektiven einfließen lassen. Gleichwohl sind die Anlässe für die »Zwischenruf«-Kommentare in aller Regel tagespolitischer Natur. Das heißt, sie sind gebunden an die jeweiligen Akteure und die Besonderheit der jeweiligen Umstände. Das impliziert die Möglichkeit von Fehleinschätzungen und Irrtümern. Und wenn die tagespolitischen Anlässe länger zurückliegen, besteht die Gefahr, dass sie heute ein wenig angestaubt erscheinen. Trotzdem glaube ich, dass sich aus den Beobachtungen und Analysen, die den politischen Kommentaren über eine längere Zeitspanne zugrunde liegen, so etwas wie eine historische Bestandsaufnahme der zurückliegenden Jahre ableiten lässt.

            Meine »Zwischenrufe«, die ich aus den vergangenen zwölf Jahren ausgewählt habe, beschäftigen sich mit dem Zustand der zweiten deutschen Republik. Zwölf Jahre sind ein Zeitraum, in dem man durchaus allmählich sich verstetigende Entwicklungen beobachten kann. Die vergangenen zwölf Jahre sind durch die Kanzlerschaft Angela Merkels geprägt. Bis auf die Jahre zwischen 2009 und 2013 regierte sie mittels Großer Koalitionen. Der nicht zufällige, sondern aus Machtkalkül bewusst in Kauf genommene Effekt Großer Koalitionen ist eine schwache Opposition und damit ein Verlust der parlamentarischen Kontrolle der Regierung. Die weitere Folge ist eine fortschreitende Schwächung der Demokratie auf allen politischen Ebenen und eine Entpolitisierung in vielen gesellschaftlichen Räumen. Während der zwölf Jahre Merkel-Herrschaft wurde die Macht dramatisch zu Lasten der Legislative auf die Exekutive verlagert, Kontrollmechanismen umgangen und ausgetrickst. Gleichzeitig korrespondiert dem Demokratieverlust im Inneren ein immer selbstbewussteres Aufreten der Repräsentanten des deutschen Staates nach außen. Unverhohlen münzt Deutschland seine ökonomische Dominanz in der Europäischen Union auch politisch um, auf Kosten und zur wachsenden Verbitterung der Schwächeren . Diese Entwicklungen reflektieren mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung die Beiträge in den Abschnitten »Arcanum« und »Postdemokratie«.

            Abgesehen von den »Europa«-Kommentaren konzentrieren sich die hier zusammengestellten »Zwischenrufe« auf nationale innenpolitische und gesellschaftliche Entwicklungen. Da galt neben dem oben Beschriebenen mein besonderes Interesse den Reaktionen auf globale Prozesse, in erster Linie natürlich dem unentschiedenen Umgang mit Flüchtlingen und der gleichzeitigen, mittelbar damit zusammenhängenden Militarisierung der deutschen Außenpolitik, wozu auch die rasante Entwicklung der deutschen Waffenexporte gehört. Auch Rechtsradikalismus und Rassismus, die in den letzten zwölf Jahren nicht nur parteipolitisch, sondern auch gesellschaftlich zu manifesten Größen in Deutschland wurden, sehe ich im Zusammenhang ungelöster Probleme der Migration und der Integration von Fremden. Ein weiteres Merkmal der Merkel-Ära, wie man die zurückliegenden zwölf Jahre jetzt schon nennen könnte, ist die von den Herrschenden mit unfassbarer Ignoranz hingenommene Auseinanderentwicklung von Reichtum und Armut. Also die Spaltung der Gesellschaft durch ein immer weiter wachsendes Gerechtigkeitsdefizit. Die Weichen dazu stellten zwar sozialdemokratisch-grüne Vorgängerregierungen, indem sie sich dazu entschieden, Deutschland auf dem Weltmarkt durch die Deregulierung der Arbeit und durch Billiglöhne konkurrenzfähig zu machen. Doch änderten die Merkel-Regierungen nichts daran, sondern beförderten im Gegenteil die weitflächige Prekarisierung auch vieler Arbeitender und deren Ausschließung aus Politik und Gesellschaft.

            In den übrigen Abschnitten habe ich Kommentare versammelt, in denen ich einer Vielzahl gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Spur zu kommen suchte, die ich ebenfalls kennzeichnend für die Merkel-Ära halte. Einen besonderen Stellenwert haben darunter zum einen der Bedeutungszuwachs der Religion, nicht zuletzt verursacht durch den mit der Migration importierten Islam. Zum anderen das sich mehr oder minder auf eine ausufernde Erinnerungskultur verengende Geschichtsbewusstsein in Deutschland. Und nicht zuletzt die fortschreitende Durchdringung sämtlicher gesellschaftlichen Bereiche durch die Digitalisierung.

            Es versteht sich bei einer solchen Sammlung von Momentaufnahmen von selbst, dass die einzelnen Themenbereiche nicht systematisch behandelt werden. Noch kann eine vollständige Darstellung der »Merkel-Ära« Gegenstand dieses Buches sein. Es kam mir lediglich darauf an, einige Merkmale herauszustellen, die jenseits des für Angela Merkel charakteristischen Regierungsstils  diesem Zeitabschnitt ihren Stempel aufdrückten. Dabei ist mir klar, dass ich andere wichtige Entwicklungen in dieser Periode überhaupt nicht berücksichtigt habe, etwa die in der Umwelt- und Klimapolitik. Was damit zusammenhängt, dass ich versucht habe, nur über solche Themen zu schreiben, über die ich mich einigermaßen informiert fühle. Ich hoffe, das hat ausgereicht, hin und wieder einen auch andere interessierenden Gedanken zu formulieren.

Peter Meisenberg

Köln, im Oktober 2017