Lisa McInerney, Glorreiche Ketzereien

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Ryan ist 17, sieht gut aus, ist intelligent, spielt sehr gut Klavier und spricht Italienisch. Das hat er alles von seiner schönen Mutter. Doch die rauchte sich vor ein paar Jahren zu Tode. Seitdem lebt Ryan mit seinem versoffenen Vater und fünf jüngeren Geschwistern in einem baufälligen Haus in einer Sozialhilfeempfängersiedlung. – Gerade liegt er in seinem Zimmer mit seiner gleichaltrigen Freundin Karine im Bett. Sie haben zum ersten Mal richtig miteinander geschlafen. Ryan ist glücklich und entwirft ihrer beider Zukunft.

„Ich werde nicht enttäuscht sein“, sagte Ryan. „Enttäuschung ist nicht vorgesehen. Es wird alles gut. Jede einzelne Sekunde.“ Er hob den Kopf. Ihre Augen waren geschlossen. Er küsste sie auf die Stirn, und während sie zu träumen begann, sah er zur Decke hinauf. Er sah, wie die Welt sich vor ihm ausbreitete, Stück für Stück, farbenfroh wie ein Sonnenaufgang. – Unten klopfte es leise an die Tür. Es war, als wollte selbst der Besuch nicht stören.

Wer da unten klopft, ist das Schicksal in Gestalt von Rosie. Rosie ist eine junge Prostituierte auf der Suche nach ihrem Freund, der spurlos verschwunden ist. Sie glaubt, dass Ryans Vater Tony ihn vielleicht gekannt hat. Womit sie gar nicht so falsch liegt. Allerdings hat Tony den jungen Mann nur als Leiche kennengelernt. Die lag in der Küche einer Dame mittleren Alters namens Maureen. Beim Versuch, bei ihr einzubrechen, erschlug sie ihn vor Schreck mit einer hölzernen Mariendevotionalie. Wohin jetzt mit der Leiche? Maureen ruft ihren Sohn Jimmy an, den mächtigsten Gangsterboss der Stadt. Der hat natürlich Leute für solche Drecksarbeit. Und schickt seinen alten Kumpel Tony, Ryans Vater…

Aus diesem verrückten Gewirr von Zufällen strickt die irische Schriftstellerin Lisa McInerney einen rasanten Roman, gleichzeitig Kriminalgroteske und Milieustudie, berstend von lakonischem Sprachwitz und präzisen Figurenzeichnungen. Er spielt in den Elendsgegenden der zweitgrößten irischen Stadt, Cork. Die einzigen, die hier arbeiten, sind die Jugendlichen. Die minderjährigen Mädchen gehen auf den Strich, die Jungen dealen. So wie auch Ryan, dessen Coming-of-Age-Geschichte im Mittelpunkt des Romans steht. Doch wird nicht nur seine Geschichte erzählt, auch die seines Vaters Tony, eines Alkoholikers und Gelegenheitskriminellen. Die von Rosie, der Prostituierten, und vor allem die von Maureen, der Mutter des Gangsters Jimmy. Sie ist die heimliche Heldin des Romans, eine heilige Närrin, mit deren Hilfe die Autorin mit der Katholischen Kirche Irlands abrechnet.

„Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte ist Jahrzehnte her.“ „Jahrzehnte?“ „Oh! Eine ganze Ewigkeit.“ „Fangen Sie an.“ „Ich habe einen Mann getötet.“ „Machen Sie Witze?“ „Klinge ich so, als würde ich Witze machen?“

Natürlich ist Maureens Beichte nur ein Vorwand, um dem Priester leere Phrasen zu entlocken, hinter denen sich kein Horoskop verstecken muss. Und, um am Ende der katholischen Kirche vorzuwerfen, sie habe mit ihrer Doppelmoral und ihren Lügen zahllose Leben zerstört.

O Vater, ich weiß, dass es mir leidtut. Aber was ist mit Ihnen? Vergib mir Irland, denn ich habe gesündigt. Kommen Sie, mein Junge. Kein Wunder, dass Sie sagen, der Heilige Gott ist voll der Gnade, denn wie sonst sollte irgendeiner von euch Dreckskerlen nachts schlafen können?

Das Milieu, in dem Lisa McInerneys Roman spielt, sieht keine Gewinner vor, kennt keinen Ausweg. Dass auch er keinen anbietet, macht „Glorreiche Ketzereien“ letztlich zu einem traurigen Roman. Am Schluss steht Ryan, der talentierteste ihrer Protagonisten, nach einer Karriere als Dealer und Gangster mit 20 Jahren vor dem moralischen und physischen Abgrund und muss einsehen, dass aus ihm nichts weiter geworden ist, als „noch ein betrügerisches Arschloch in einer Stadt voller betrügerischer Arschlöcher.“- Aber Lisa McInerney ist kein Charles Dickens. Ihr messerscharfer Sarkasmus und ihre pointenreich sprudelnde Erzählkunst halten sie fern von Gefühlsduselei und Sozialromantik. Doch nicht davon ab, sich ihren Figuren voller Mitgefühl zuzuwenden und so auch die Sympathien der Leser für sie zu erobern.

Lisa McInerney, Glorreiche Ketzereien. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind. 448 Seiten. 24 Euro

WDR 3 Mosaik 17.12.2018