Macht und Gewalt

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LBD 40 ist die Abkürzung für ein Gummigeschoss mit einem Durchmesser von 40 Millimetern. Es trifft zielgenau auf 25 bis 50 Meter und mit einer Aufprallgeschwindigkeit von 200 Stundenkilometern. Seit Beginn der sogenannten Gelbwesten-Proteste im letzten Herbst wurden nach Angaben des französischen Innenministeriums von französischen Polizisten 9.200 LBD-Geschosse auf Demonstranten abgefeuert. Obwohl die Vorschriften untersagen, auf die Köpfe zu zielen, haben die Polizisten des Öfteren wohl genau dies getan: 1.900 Demonstranten wurden z.T. schwer verletzt, laut der Zeitung Libération verloren 15 von ihnen ein Auge. – Am vergangenen Wochenende demonstrierten die „Gelbwesten“ erstmals nicht mehr nur gegen den Präsidenten Macron, sondern auch gegen Polizeigewalt.

Bisher wurden die Proteste der Gelbwesten hierzulande nur mit großem Vorbehalt wahr- und aufgenommen, denn sie waren öfters gewaltsam. Die Protestierenden zerstörten Dinge, verletzten manchmal auch Menschen.  Gewalt aber ist, wie man weiß, in Demokratien ein Monopol des Staates. Gewalt der einzelnen Bürger dagen ist tabu. Die Rede ist von physischer Gewalt. Wovon aber in solchen Zusammenhängen selten gesprochen wird, ist, welche Gewalt den Regeln der Macht innewohnt und beispielsweise von den Gesetzen und Verordnungen des Staates ausgehen kann.

„Strukturelle Gewalt“ nannte man das früher einmal. In Frankreich haben der Soziologe Didier Eribon und der Schriftsteller Édouard Louis den Begriff in Bezug auf die Gelbwesten-Proteste wieder ausgekramt. In seinem jüngsten Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“ nennt Louis die Gewalttäter beim Namen: Präsident Chirac habe seinem Vater nach einem Arbeitsunfall durch verminderte Rückvergütung den Darm kaputt gemacht. Präsident Sarkozy habe ihm durch verminderte Sozialhilfe das Rückgrat gebrochen, Präsident Hollande durch das neue Arbeitsrecht die Luft abgeschnitten und es sei Präsident Macrons Gewalt gewesen, die ihm am Ende das Essen vom Teller nahm.

Das Feuilleton verbuchte diese verbalen Gewaltausbrüche als literarische Überzeichnungen. Die durch Polizeigeschosse verletzten Gelbwesten werden sie wortwörtlich nehmen. Zumal sie nun, nachdem die strukturelle Gewalt der Macht sie auf die Straße trieb, nun auch weiter mit unmittelbarer physischen Gewalt konfrontiert sind.

Seitdem sie im Jahr 1961 200 algerische Demonstranten ermordete und die Leichname in die Seine warf, ist die Pariser Einsatzpolizei für ihre Brutalität bekannt. Jetzt gab ihr der Pariser Staatsrat auf Weisung des Innenministers noch einmal ausdrücklich die Erlaubnis, das Gummigeschoss LBD 40 einsetzen zu dürfen. Gewalt gebiert bekanntlich häufig neue Gewalt. Die Demonstranten am 14. Juli 1789 erstürmten die Bastille erst, nachdem deren Kommandant 90 von ihnen hatte erschießen lassen.

WDR 3 Mosaik 5. Februar 2019