Miron Białoszewski, Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand

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Miron Bialoszewski, Erinnerungenaus dem Warschauer Aufstand.Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Suhrkamp 2019. 344 Seiten. 26 Euro

Mit Bedacht hat die Übersetzerin Esther Kinsky Białoszewskis Buch nicht den Titel „Erinnerungen an…“ sondern „Erinnerungen ausdem Warschauer Aufstand“ gegeben. Denn MironBiałoszewski schreibt nicht überden Aufstand, er fühlt sich nicht als ein literarischer Geschichtsschreiber. Sondern er versammelt radikal subjektive gedankliche Momentaufnahmen von dem, was er während des Aufstandes erlebte.

Zwanzig Jahre lang konnte ich nicht darüber schreiben. Obwohl ich so wollte. Und redete. Vom Aufstand. Mit so vielen Leuten. Allen möglichen. Soundsoviele Male. Und dauernd habe ich gedacht, ich muss diesen Aufstand aber irgendwie doch b e s c h r e i b e n. Und dabei wusste ich noch nicht, dass dieses Reden über zwanzig Jahre – seit zwanzig Jahren rede ich darüber, es ist doch die größte Erfahrung meines Lebens gewesen, dass eben dieses Reden die einzige Art ist, auf die man den Aufstand beschreiben kann.

So werden die Rede, die erlebte Rede, das Selbstgespräch zu den Stilmitteln im Erinnerungsbuch des Lyrikers Białoszewski. Es ist ein entsprechend angespanntes, abgehacktes, gehetztes Erinnern, dem der Leser folgen muss. Die Sprache, die Grammatik, der Satzbau werden zerschlagen. Das Erinnern, an dem Białoszewski die Leser teilnehmen lässt, ist ein schmerzhafter Prozess: Nichts darf ins Vergessen sinken, alles muss wahrgenommen und wieder heraufbeschworen – und jetzt beschrieben werden: Die Farben, die Gerüche, jedes Gefühl und jedes Geräusch bei der ständigen Flucht der Warschauer Zivilisten über die Hinterhöfe, durch die Keller und Kanäle der unter dem Dauerbeschuss der Deutschen Haus um Haus, Straße für Straße zerberstenden und in Schutt versinkenden Stadt.

Denn es wurde immer schlimmer. Der Beschuss. Sie erledigten sie systematisch. Der Reihe nach. Die Zlota, dann Jasna, dann Sienkiewicza. Jeder wusste Bescheid. Welche wann dran war. Aber dann tagsüber. Der Himmel. Grauslich. Mengen. Mengen. Oft. Buuuu-uu-u. Flieger. Wie Zahnschmerzen. Und dieses Wetter. Hitze. Blauerhimmel. Und hier so grau. Und… uu-uuu-uu-uu… wiiii-juuuuu -…krach!

Białoszewski war 22 Jahre alt, als der Aufstand begann. Er erlebt ihn nicht als ein Kämpfer der Polnischen Heimatarmee, sondern als Zivilist. Das heißt, er kämpfte nicht mit der Waffe. Aber er half den Kämpfenden, so wie die meisten anderen Warschauer Zivilisten, wann immer es sich ergab, trug Verwundete, half beim Barrikadenbau. Im Wesentlichen aber floh er, zusammen mit seiner Familie und seinen Freunden: Von den Kellern, von denen sie glaubten, dass sie nicht mehr lang standhalten werden, zu vermeintlich sichereren Orten. Dort harren sie aus, blicken hoch zum Staub, der von den Gewölbedecken rieselt, hören und spüren die Einschläge der deutschen Minen ringsum und hoffen, dass ihre Litaneien erhört werden. 

Von Bomben und Fliegern – Erlöse uns, Herr,

Von Panzern und Goliaths – Erlöse uns, Herr,

Vom Erschossenwerden – Erlöse uns, Herr,

Vom Verschüttetwerden – Erlöse uns, Herr.

Bestünde Białoszewskis Erzählung ausschließlich aus den Erinnerungen an das während des Aufstandes erlebte Grauen, – sie wäre eine kaum erträgliche Lesekost. Doch gelingen ihm immer wieder heitere, fast beschwingte und manchmal sogar komische Momente. Und zwar immer dann, wenn sich seine Akteure solidarisch verhalten, wenn sie einander Mut machen, wenn sie mitten im Bombenhagel Gedichte schreiben und Dichterlesungen veranstalten. – Mit diesem Sinn für die Widerständigkeit des Menschlichen in einer unmenschlichen Situation erweist sich Białoszewskis Erzählung als ein Meisterwerk.

WDR 5, „Bücher“, 7. Dezember 2019