Der verweigerte Tod

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Ende der vergangenen Woche ging aus der Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage der FDP hervor, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts systematisch ignoriert, dessen Umsetzung sogar torpediert hat – und dies auch weiterhin zu tun gedenkt. – Das Gericht hatte das Spahn unterstellte „Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte“ bereits 2017 verpflichtet, in Ausnahmefällen tödlich wirkende Medikamente zum Zweck einer „würdigen und schmerzlosen Selbsttötung“ an leidende Patienten auszugeben. Jetzt stellte sich heraus, dass Spahn seine Behörde persönlich angewiesen hatte, sämtliche Sterbehilfe-Anträge ohne Einzelfallprüfung abzulehnen. Daraufhin stellte die Behörde die aufwendige Prüfung der Anträge sterbewilliger Patienten tatsächlich auch ein. Mehr als 100 Patienten haben seitdem vom Bundesinstitut Absagen bekommen.

In Michael Hanekes Film „Amour“ geht es um ein sehr altes Ehepaar, Georges und Anne. Nach einem Schlaganfall ist Anne gelähmt, verfällt zusehends und äußert George gegenüber offen Suizidgedanken, obwohl der sie aufopfernd pflegt. Doch die Krankheit schreitet fort, Anne verweigert Essen und Trinken, kann sich kaum noch artikulieren, nur noch um Hilfe schreien. Schließlich setzt sich Georges an ihr Bett, erzählt ihr eine Geschichte und erstickt sie dann unvermittelt mit einem Kissen. – Aktive Sterbehilfe. Töten auf Verlangen. Eine Straftat. Doch wir als Zuschauer erleben sie als etwas Berührendes, Befreiendes.

Wenn auch diese Art von Befreiung gesetzlich verboten bleibt, eine andere, nämlich die Beihilfe zur Selbsttötung ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im vergangenen Februar straffrei. Jeder Mensch, sagte das Gericht, habe das Recht, sich das Leben zu nehmen und dazu auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Damit wurde nicht nur der vor drei Jahren vom Parlament beschlossene Strafrechtsparagraph 217 nichtig, der die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe stellte. Darüber hinaus stellte das Gericht auch sicher, dass die Hilfe zur Selbsttötung nicht nur auf unheilbar kranke Menschen beschränkt ist: In jederLebensphase eines Menschen bestehe das Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

Dieses Urteil wurde von vielen als eine Art Kulturbruch empfunden. Zu recht. Denn damit brach das Gericht mit der sich im Gesetz manifestierenden christlichen Tradition, nach der der Freitod ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung, eine „Todsünde“ ist. Und ebnete den Weg dafür, dass eine aufgeklärte, eine vom religiösem Fundamentalismus befreite Ethik in die Gesetzgebung einfließt, die künftig Regeln für die Beihilfe zum Selbstmord aufstellen muss. Ob aber diese gesetzlichen Regeln tatsächlich auch dem Geist des Karlsruher Urteils entsprechen werden, ist unter solchen Ministern wie Jens Spahn äußerst fraglich. Wer wie er ein Gerichtsurteil, das bisher die assistierte Selbsttötung regelte, ignorierte und in einem Willkürakt sogar unterlief, wird auch Wege finden, das mit dem Karlsruher Urteil entzündete liberale Lichtlein wieder auszupusten.

Willfährige Juristen aus dem konservativen Lager stehen mit Vorschlägen schon bereit. Der Bonner Professor Christian Hillgruber etwa denkt bereits über „Wartepflichten“ und „Erlaubnisvorbehalte“ nach, und sogar über „Verbote besonders gefahrenträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe“ –  „entsprechend dem Regelungsgedanken des Paragraphen 217 StGB“. Also des Paragraphen, den Karlsruhe gerade für nichtig erklärte.

Es wird also noch dauern, bis die Selbsttötung bei uns vom Schmach der „Todsünde“ befreit ist und bis den Menschen, die selbstbestimmt ihr Leben beenden wollen, der gebührende Respekt gezollt wird. Für die Anhänger der antiken Stoa galt es als ein Zeichen von Besonnenheit und Reife, sich zur rechten Zeit das Leben zu nehmen.

WDR 3 Mosaik 10. März 2020