Das schlechte Gewissen und die Verbotskultur

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https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-resonanzen/audio-zwischenruf-die-gruenen-fordern-hoehere-fleischpreise-100.html

Noch heute gellt den deutschen Schnitzelessern in den Ohren, als deren Zentralorgan, die Bild-Zeitung, im Jahr 2013 aufschrie: „Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten!“ Im legendären Veggie-Day gründet der Ruf der Grünen, eine Verbotspartei zu sein. Der kostete ihnen viele Stimmen. Und nötigte sie eine Zeit lang, sich mit dem Einsatz der volkspädagogischen Rute zurückzuhalten.

In der Corona-Krise hat sich die Mehrheit der Deutschen als überaus gehorsam gegenüber staatlichen Verboten gezeigt. Da scheinen die Grünen wieder Morgenluft zu wittern und glauben, ihren Hang zum Verbieten durchsetzen zu können. Anlass sind die durch Corona-Infektionen offenbar gewordenen skandalösen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. – Schluss mit Billigfleisch und der Massenproduktion von Fleisch zu Dumpingpreisen! Fordert ein Positionspapier des Grünen-Parteichefs Robert Habeck. Her mit einem Mindestpreis für tierische Produkte!

Prompt war im reflexhaften Aufjaulen der Bild-Zeitung wieder von „grünen Ökodiktatoren“ die Rede, die einen Mindestpreis für „unser“ Schnitzel bestimmen wollen. Übersehen hatte Bild, dass sich die CSU den Grünen anschloss und ebenfalls ein Ende des „unanständigen Preiskampfes beim Fleisch“ und eine „deutliche Erhöhung der Fleischpreise“ forderte. Und übersehen hatte Bild auch, dass Habecks Mindestpreis-Votum nur ein Punkt unter anderen Forderungen war, den unsäglichen Zuständen in der Fleischindustrie ein Ende zu bereiten. Vor allem ging es ihm in seinem Papier um eine grundsätzliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen dort.

Noch mehr aber wäre zur deutschen Fleischindustrie zu sagen gewesen. Über die systematische Verhinderung gesetzlicher Tierwohlbestimmungen durch eine der Agrarindustrie willfährige Landwirtschaftsministerin zum Beispiel. Oder über die staatlichen Subventionen für den Fleischexport, der inzwischen die Hälfte der deutschen Fleischproduktion ausmacht. Und der natürlich von den Mindestpreis-Festschreibungen für den Binnenmarkt nicht betroffen wäre.

Es ist schade, dass Habeck nicht ausführlicher auf diese und viele andere Missstände zu sprechen kam und an seinem Papier dann doch wieder die selbstgerechte Vorliebe der Grünen für Bevormundung hervorsticht. So entsteht am Ende der Eindruck, jeder einzelne Fleisch verzehrende Verbraucher wäre es persönlich Schuld, dass es den Tieren schlecht geht und dass die sie schlachtenden und zerlegenden Arbeiter ausgebeutet werden. – Durch die Erzeugung eines schlechten Gewissens kann man bestimmt die eine oder andere schlechte individuelle Gewohnheit bekämpfen. Aber reicht das auch aus, um dem Kapitalismus die schlechten Gewohnheiten auszutreiben?

WDR 3 Resonanzen 19. Mai 2020