Anton Čechov, Sommergeschichten

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Anton Čechov, Sommergeschichten. Aus dem Russischen von Peter Urban. Diogenes Verlag 2020. 272 Seite. 22 Euro

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Wenn Sie leben wollen, so besteigen Sie die Eisenbahn und fahren dorthin, wo die Luft durchdrungen ist vom Duft des Flieders und des Faulbeerbaumes, wo, mit seinem zarten Weiß und dem Glanz diamantener Tautropfen unseren Blick erfreuend, nacheinander das Veilchen und die Nachtviole blühen. Dort, in der freien Natur, unter dem blauen Himmelsgewölbe, im Anblick des grünen Waldes und gurgelnder Bäche, in Gesellschaft der Vögel und grüner Käfer werden Sie begreifen, was das Leben ist.

Mit Freuden begreift der Erzähler, was das Leben ist. Mitte Mai nimmt er 28 Tage Urlaub und verbringt den in einem Sommerhaus, das in keiner Hinsicht zu wünschen übrig lässt. Die Zimmer sind hell, das Essen reichlich und die Nächte erfüllt vom Gesang der Nachtigall…

Leser, ich bin begeistert, gestatten Sie mir, Sie zu umarmen!

Das Beste am Sommerhaus aber ist Sofia, die Vermieterin, eine „wunderhübsche, großartige, bezaubernde Person“, in die der Erzähler sich nach wenigen Tagen verliebt und die sich bereitwillig auf eine erotische Romanze mit ihm einlässt. Am Ende des wunderbaren Urlaubs präsentiert sie ihm eine Rechnung von über 200 Rubel, 75 Rubel mehr als vereinbart. Wofür sind die? Fragt der Erzähler. Wie, wofür? antwortet Sofia und schaut dabei so aufrichtig, klar und erstaunt drein, dass der Erzähler umstandslos auch noch für seine Romanze bezahlt. – Die ironische Pointe ist die Spezialität der frühen Erzählungen Anton Čechovs. Die meisten der in diesem Band versammelten und vornehmlich im Sommer spielenden Geschichten stammen aus der frühen Schaffensperiode des Erzählers Čechov. Oft sind es mit leichter Hand geschriebene Skizzen und Satiren, die mit sanftem Spott die Borniertheit russischer Kleinbürger und Beamten aufs Korn nehmen. Ein Liebhaber zahlt einem Ehemann eine beträchtliche Summe, damit der ihm seine Frau abtritt. Jahre später, im Sommerhaus auf der Krim, erlebt das Paar, wie der neureiche Ehemann ins benachbarte Haus einzieht. Ein paar Tage später betrügt die Frau ihren Liebhaber mit ihrem Mann. – Manchmal wird Čechovaber auch zum satirischen Kritiker der selbst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft immer noch brutalen Herrschaftsverhältnisse in Russland. Etwa in der Geschichte, in der ein Gutsbesitzer für den Diebstahl eines einzigen Apfels ein Liebespaar zwingt, sich gegenseitig zu schlagen. Und danach?

Der Jüngling und das Mädchen wandten sich um und gingen. Der Jüngling ging nach rechts, das Mädchen nach links und … sie haben sich bis heute nicht wieder getroffen.

Der junge Čechovschrieb während seines Medizinstudiums, um sich, seine Eltern und Geschwister zu ernähren. Seine meist komischen Geschichten sind Auftragsarbeiten für bunte Gesellschaftsmagazine. Die Honorare sind ebenso knapp wie die Zeilenvorgaben. Der Schriftsteller muss sich kurz fassen und er muss viel, sehr viel schreiben. Über 400 Kurzgeschichten und Glossen sind aus den Jahren 1880 bis 1890 überliefert. In einer der hier versammelten Sommergeschichten nimmt Čechovseine damaligen Produktionsbedingungen aufs Korn: Durchs geöffnete Fenster beobachtet er eine hübsche Nachbarin bei ihrer täglichen mal begeisterten, mal sie böse und traurig stimmenden Zeitungslektüre. 

O wunderschönes seltenes Geschöpf! Letztes Wort der Frauenemanzipation! Sie empfindet staatsbürgerlichen Kummer! Oh gäbe es nur mehr solcher Frauen! 

Doch dann erfährt er, dass die Lektüre der Frau allein den von ihrem Mann, einem Journalisten, geschriebenen Artikeln gilt und ihre Stimmung von der Zahl seiner Zeilen abhängt. – Viele der unter solchem Druck geschriebenen Kurzgeschichten Čechovs reichen nicht an die Qualität seiner späteren, reifen Erzählungen heran und es ist deshalb schade, dass in dem vorliegenden Sammelband die frühen Arbeiten überwiegen. Nur zwei dieser insgesamt 24 „Sommergeschichten“ stammen aus dem späteren Werk des Autors. So lernt der Leser in der glänzenden, sprachlich wunderbar eigenständigen Übersetzung Peter Urbans zwar den kompletten Erzähler Čechovkennen. Doch kommt hier seine sich erst später entfaltende, psychologisch ausgefeilte Erzählkunst, etwas zu kurz. Was Čechovnach über 120 Jahren heute noch zu sagen hat, zeigt sich an der 1897 geschriebenen Erzählung „Im heimischen Winkel.“ Nach der Ausbildung in Moskau kehrt die junge Vera in ihre südrussische Heimat zurück, um hier auf dem Gut ihres Großvaters zu leben. Doch schon bald stößt sie die Bösartigkeit ihrer Gutsbesitzer-Verwandtschaft ab und das Leben in der Provinz beginnt sie unendlich zu langweilen. Davon zermürbt, ist sie schließlich bereit, den benachbarten Fabrikbesitzer zu heiraten, obwohl sie den faden Mann nicht liebt, ihr künftiges Unglück wohl wissend in Kauf nehmend.

Diese beständige Unzufriedenheit mit sich selbst und den Menschen, diese Reihe grober Fehler, die sich, blickt man in die eigene Vergangenheit, wie ein Berg vor einem auftürmt, würde sie für ihr wahres, das ihr beschiedene Leben halten und nicht auf ein besseres warten … Ein besseres gibt es ja nicht! Die schöne Natur, die Träume, die Musik sind das eine, das wirkliche Leben – das andere. Offensichtlich existieren Glück und Gerechtigkeit nur irgendwo außerhalb des Lebens.

WDR 3 Mosaik 27. Juli 2020