Sommer des Verrats

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Roman. Arachne Verlag August 2020

Vorbemerkung

Im Sommer 1943 bahnt sich die entscheidende Wende des 2. Weltkrieges an: Die Alliierten gewinnen an allen Fronten allmählich die Überhand über Deutschland. Bereits im Januar hat in Stalingrad die 6. Armee kapituliert, im Mai müssen sich die deutschen Truppen in Tunesien ergeben, im Juli landen die Alliierten in Sizilien. Die große Frage des Sommers 1943 ist, wann die Allierten endlich die von Stalin im Januar auf der Casablanca-Konferenz geforderte „Zweite Front“ eröffnen werden. Gemeint ist damit die Invasion der Westalliierten ins von den Deutschen besetzte Frankreich. Frankreich wird zu einem Hauptschauplatz, zum Entscheidungsfeld des Krieges.  Konkrete Planungen für die „Zweite Front“ beginnen schon im April. In einem großangelegten Täuschungsmanöver namens „Operation Fortitude “ spiegeln die Briten den Deutschen unter anderem auch eine baldige Landung im nordfranzösischen Pas-de-Calais vor. (Weil die Kräfte der Allierten zu einer tatsächlichen Invasion noch nicht ausreichen.) Gleichzeitig bekommt die britische Geheimdienstorganisation Special Operation Executive SOE den offiziellen Auftrag zu Sabotageaktionen gegen die deutschen Truppen in Frankreich. Umgekehrt erhöht die deutsche Besatzungsmacht ihren Druck auf die erstarkende französische Résistance.

Die auf tatsächlichen Ereignissen beruhende Romanhandlung spielt im geheimdienstlichen Spannungsfeld dieser Auseinandersetzungen. Ihr Haupt-Protagonist, Matthieu Roche, ein französischer Architekt, ist der Chef eines in Paris und im Nordosten Frankreichs operierenden SOE-Netzes. Sein Gegenpart der zur deutschen militärischen Gegenspionage „Abwehr“ gehörende Feldwebel Hugo Bachmann. Bachmann hatte bisher außerordentliche Erfolge bei der Bekämpfung der französischen Résistance. Zuletzt ist es ihm gelungen, Roches Adjutanten Roger Gaillot festzunehmen und „umzudrehen“. Roche weiß davon und setzt nun umgekehrt Gaillot gegen Bachmann ein. Der Erfolg dieses Spiels hängt nicht nur davon ab, ob der labile Gaillot seiner Rolle als Doppelagent gewachsen ist. Auch engen Intrigen innerhalb des britischen Geheimdienstes zunehmend den Spielraum von Roches Netz ein und werden in Person des Triple-Agenten Henri Lancelin zu einer Bedrohung seiner Freiheit und seines Lebens.

Textbeispiele

1.

Paris, Juni 1943

Der letzte Rest Farbe verschwindet aus Sagets Gesicht, als Masuy ihn auf einen Stuhl fesselt, seine Hände auf dem Rücken zusammenbindet, die Füße einzeln an die vorderen Stuhlbeine. Bisher hat Masuy ihm noch kein Haar gekrümmt. Er bildet sich etwas ein auf die Raffinesse seiner Verhörmethoden. Die Blässe Sagets rührt von dem, was er jetzt vor sich auf einem Tisch ausgebreitet sieht. Chromblitzende Werkzeuge, Zangen und Skalpelle jeder Art und Größe. Ein Satz verschieden langer Feilen. Einige Garnituren handschellenartiger Instrumente mit inwendigen Dornen. Außerdem Schlagstöcke und Peitschen. Saget kann gar nicht anders als darauf zu schauen. Sein Stuhl ist genau davor platziert. Masuy steht neben ihm und beobachtet ihn aufmerksam. Seiner Miene ist keine Regung anzusehen. Nach allem, was über ihn erzählt wird, soll er kein Sadist sein, eher ein Methodiker. Mit einem ansatzlosen Tritt bringt er Sagets Stuhl ins Wanken. Das Geräusch des Trittes lässt Gaillot, der vom Nebenraum aus zuschaut, zusammenzucken. Saget versucht, das Gleichgewicht zu halten. Dazu hat er kaum Möglichkeiten, denn seine Füße berühren den Boden nicht mehr, schweben in der Luft. Also versucht er mit einem Ruck sein Körpergewicht nach vorn zu verlagern. Für eine Sekunde scheint ihm das zu gelingen, aber dann siegt die Schwerkraft und der Stuhl kippt nach hinten. Und während er kippt und Saget nichts anderes tun kann als darauf zu warten, dass er fällt, muss ihm das ganze Ausmaß seiner Ohnmacht klar werden. Die Methode Masuy. Als er zu Boden kracht, entfährt Lacombe, der neben Gaillot steht, ein Glucksen. Gaillot schaut ihn an und sieht, dass er grinst.

„Du weißt, worum es geht?“ fragt Masuy, während er den Stuhl mit Saget wieder aufrichtet.

Saget antwortet nicht. Er hat noch kein Wort gesagt, seitdem ihn Masuy und Lacombe vor einer Stunde festnahmen. Mit gesenktem Kopf führten sie ihn aus seiner Autowerkstatt in Neuilly und schoben ihn in ihren davor parkenden Wagen. Gaillot, der ihnen den Weg gezeigt und sie bis zur Werkstatt geführt hatte, folgte ihnen in einiger Distanz in Bachmanns Wagen. Es wäre nicht gut, wenn Saget ihn sehe, hatte Bachmann gesagt. Vielleicht überlebte er ja das Verhör.

„Jedenfalls weißt du, dass du mir alles sagen wirst, was ich von dir wissen will. Und zwar in weniger als in einer Stunde.“ Masuy nähert sein hageres Gesicht dem Sagets. Saget wendet seines ab. Doch kann er nirgendwo anders hinschauen als auf die Instrumente auf dem Tisch vor sich.

„Du kannst dir das ganze Theater und die Schmerzen also sparen“, fährt Masuy fort, ruhig, geduldig wie ein Lehrer, der auf einen begriffsstutzigen Schüler einredet. Er zieht einen neben den Instrumenten liegenden Stoß aneinander gehefteter Blätter heran und nimmt sie in die Hand. Gaillot erkennt auf den ersten Blick, dass es sich um das von André Marsac erstellte und von ihm ergänzte Dossier über Cartehandelt.

„Wir gehen diese Liste jetzt Namen für Namen durch und du bist so freundlich, mir die zu jedem Namen gehörige Adresse, Kontaktpersonen, Treffpunkte, Briefkästen und so weiter zu sagen. Wir gehen alphabetisch vor. Einverstanden?“ Masuys Stimme klingt wie die eines Beichtvaters.

„Borree, Andrée“, beginnt er, beugt sich zu Saget hinunter und schaut ihn mit fast liebevoller Aufmerksamkeit von der Seite an.

Saget schweigt, schaut starr auf die vor ihm ausgebreiteten Folterinstrumente. 

Gaillot weiß, dass Saget weiß, dass er jetzt noch mindestens 24 Stunden durchhalten muss. Er sieht das totenbleiche Gesicht des untersetzten Automechanikers, sieht, wie es erstarrt. Er kann sich in ihn hineinversetzen. Er war schon einmal in einer ähnlichen Situation. 24 Stunden. So lange muss ein gerade festgenommener Agent schweigen. Zwölf Stunden braucht es, bis sich die Nachricht von seiner Festnahme in seinem Netz verbreitet hat. 12 weitere, bis Gegenmaßnahmen getroffen, Warnungen weitergeleitet, vereinbarte Treffen abgesagt, Briefkästen stillgelegt sind.

„Borree, Andrée“, wiederholt Massuy mit ebenso sanfter Stimme wie beim ersten Mal. 

Saget blickt weiter starr nach vorne und schweigt. Massuys Faustschlag, der seitlich seine Nase trifft, kommt ebenso ansatzlos wie der Fußtritt von vorhin.  Saget hat nicht damit gerechnet. Deshalb trifft ihn der Schlag mit voller Wucht, Blut schießt aus den Nasenlöchern. Der Stuhl gerät erneut ins Wanken, droht diesmal zur Seite statt nach hinten zu kippen. Masuy geht einen Schritt zurück, um abzuwarten, was geschieht, doch der Stuhl mit Saget kommt zurück ins Gleichgewicht.

„Borree, Andrée“, sagt Masuy zum dritten Mal, immer in noch fast freundlichem Ton. „Wir wissen, dass du sie kennst. Also erzähl’ uns was über sie.“

Die Nase ist ein sehr empfindliches Organ. Saget muss tierische Schmerzen haben, wahrscheinlich ist sein Nasenbein zersplittert. Aber er gibt keinen Laut von sich, starrt weiter geradeaus. Um seine Nase herum breitet sich ein rotes Hämatom aus. Die Haut über den Tränensäcken läuft dunkel an. Das Blut aus der Nase fließt ihm über den Mund, tropft hinunter auf seinen Arbeitsoverall und vermischt sich dort mit den Ölresten zu einem schwarz glänzenden schmierigen Brei.

Gaillot schaut weg. Sein Magen hebt sich. Der Anblick des geschwollenen Gesichts von Saget und die Mischung aus Blut und Dreck verursachen ihm Ekel. Er ist so etwas nicht gewohnt, hasst Gewalt und Brutalität. Doch Bachmann hatte darauf bestanden, dass er bei dem Verhör Sagets dabei ist. Schließlich sei er der einzige, der wissen könne, ob mit dem, was Saget sagt, etwas anzufangen ist oder nicht. Wenn er was sagt.

Aber Saget sagt nichts. Masuy nimmt das mit einem bedauernden Seufzen zur Kenntnis. Er macht keine Anstalten, noch einmal zuzuschlagen. Offenbar hat er den ersten Schlag als einen zweiten Wachmacher eingesetzt, als ein weiteres Instrument, um Saget dessen Ohnmacht vor Augen zu führen. Denn er packt nun den Stuhl mit Saget an der Rückenlehne und dreht ihn um neunzig Grad, so, dass sich das Blickfeld des Gefesselten auf einen weiteren Teil des Raumes erweitert. Gaillot muss einen Schritt zur Seite gehen, um sehen zu können, was Saget jetzt sieht. Es ist eine Badewanne, eine ganz normale emaillierte, auf vier eisernen Füßen stehende Badewanne.

„Bestimmt hast du schon einmal von der Spezialität meines Hauses gehört.“ Masuy ist in einen Plauderton verfallen. „Denn mein hübsches baignoireist inzwischen wirklich eine Berühmtheit. Der wahre Zungenlöser!“

Jeder in der Résistance hat vom baignoireChristian Masuys gehört, der eigentlich Georges Henri Delfanne heißt und ein belgischer Faschist mit inzwischen deutschem Pass ist. Er hat den Ruf, der beste Verhörspezialist der deutschen Abwehr zu sein. Sein baignoire hat bisher noch jeden zum Sprechen gebracht, der in seine Finger geriet. Trotzdem lässt Masuy es sich nicht nehmen, es Saget noch einmal zu erklären.

„Darin ist eiskaltes Wasser, Blut, Scheiße und Pferdehaar. Und darin wirst du gleich baden gehen.“

Masuy sieht den Automechaniker aufmerksam an. Doch Saget zeigt immer noch keine Reaktion außer der, dass dickes, mit Schleim vermischtes Blut träge aus seiner Nase sickert. Masuy erspart es sich, seine Frage noch einmal zu wiederholen. Er hebt kurz die Hand und fast im gleichen Augenblick tauchen wie aus dem Nichts zwei seiner Helfer auf, kräftige Männer, die in den Markthallen Schweinehälften schleppen könnten. Wie sie tragen sie lange schwarze Gummischürzen. Ohne ein Wort packen sie den Stuhl mit Saget darauf, einer rechts, einer links, schleppen ihn zur Badewanne, heben ihn über deren Rand und lassen ihn in die Wanne hinab, so, dass Saget rückwärts in deren Inhalt versinkt. Man hört ein Glucksen und Gurgeln. Dann nichts mehr. Gaillot müsste sich auf die Zehenspitzen stellen, um mehr sehen zu können. Er verzichtet darauf. Im Gegensatz zu Lacombe neben ihm. Der streckt seinen Hals, um alles mitzubekommen. Gaillot sieht, wie er wieder grinst. Bachmann hält große Stücke auf ihn, nennt ihn liebevoll „Kiki“ und meint, dass sie beide, Lacombe und er, in Zukunft ein gutes Team bilden würden. Masuy schaut auf seine Armbanduhr, während seine Helfer den Stuhl mit Saget nach unten gedrückt halten. Gaillot schätzt, dass zwei Minuten vergangen sein müssen, als er seinen Helfern ein Zeichen gibt und sie Saget aus der Wanne ziehen. Sagets Oberkörper bäumt sich und er schnappt mit einem so grauenerregenden Geräusch nach Luft, dass es Gaillot den Atem verschlägt. Die Haare, das Gesicht, der ganze Körper des Mechanikers sind mit einer Mischung aus blutigem Kot und dickem schwarzem Haar bedeckt. Als er den Mund zum zweiten Mal aufreißt, um wieder Luft zu holen, rutscht ein Klumpen des schwarz-roten Breis hinein. Gaillot dreht sich um. Ihm wird übel, er wankt in eine Ecke des Raums und erbricht sich.

2.

Paris, August 1943

Die Luft steht, ist so dick, dass sie über dem Asphalt der Avenue de Wagram ins Vibrieren gerät. Die in der Ferne liegende Place des Ternes schwebt wie eine Fata Morgana über der Straße. Seit Tagen kein Regen mehr, keine Wolke am Himmel, Temperaturen um die dreißig Grad. Der August 1943, sagen sie in den Wetterberichten, ist der heißeste in Zentraleuropa seit 1914. Die Soldaten, die in losen Trupps von der Champs Élysées auf die Place d’Étoile zusteuern, tragen ihre Uniformjacken weit geöffnet, manche haben sie ausgezogen und über die Schultern gelegt. Auch in der Freizeit vorschriftswidrig. Bachmann ist es schnurz, er genießt sein Privileg, keine Uniform tragen zu müssen, hat sich ohnehin nie als Soldat empfunden. Er lehnt an einem Zeitungskiosk an der Ecke Avenue Mac-Mahon und Avenue de Wagram und hat den auf der Insel des Arc de Triomphe liegenden Schacht der Métrostation Étoile im Auge. Ab und zu geht er ein paar Schritte nach links und wirft einen Blick die Avenue de Wagram hinunter. Der Kellner des Café Monte Carlohält den von ihm reservierten Tisch tatsächlich frei.

Hugo Bachmann ist bester Laune. Selbst wenn das, was er da eingefädelt hat, schief gehen sollte, den Ruf, das „As der Abwehr“ zu sein, wird ihm keiner mehr streitig machen können. Fast im Alleingang hat er in den letzten anderthalb Jahren einen Großteil der vom britischen Geheimdienst gesteuerten Résistance ausgehoben und deren Agenten in den Knast nach Fresnes geschickt. Er hat die besten Tricks, die zuverlässigsten Spitzel. Warum sollte dann dieser Coup heute Nachmittag nicht gelingen? Er hat ihn perfekt eingefädelt. – Andererseits wird auch er die Invasion der Westalliierten in Frankreich kaum verhindern können. Auch dann nicht, wenn er jetzt vielleicht bald herauskriegen wird, wo und für wann genau sie geplant ist. Ebenso wenig wird er die immer wahrscheinlicher werdende Niederlage Deutschlands aufhalten können. Am Morgen hat er im Radio gehört, dass der Führer einen Befehl zur Errichtung des Ostwalls am Dnjepr gegeben hat. Klang großartig. Panther-Stellung! Aber man braucht kein General zu sein, um zu wissen, dass das nichts anderes bedeutet als das Eingeständnis, dass sie vor den immer stärker vorrückenden Russen Auffangstellungen beziehen, den Rückzug einleiten müssen. Bachmann ist auch klar, dass er nicht der einzige ist, der das weiß. Die Stimmung in seiner Truppe könnte man als leicht morbide bezeichnen.

Stimmungen, zumal morbide, sind nicht Bachmanns Sache. Er hält sich von Stimmungen fern und deshalb kommen sie auch nicht an ihn heran. Auch im Krieg ist er ein Kaufmann geblieben. Richtet seinen Blick lieber auf das Machbare, also nach vorn, auf das nächste zu bewältigende Hindernis. Auf den Kanal. Denn noch ist nicht ausgemacht, ob die Landung der West-Alliierten hier in Frankreich ein Erfolg werden wird. Die Vorbereitungen der Deutschen für die Zweite Front laufen auf Hochtouren. Zehntausende arbeiten am Atlantikwall, das ganze Pas-de-Calais ist zu einer Stellung für V2- und V3-Raketen ausgebaut, zwei deutsche Armeen stehen an der Küste. Und nicht zuletzt er, der Oberfeldwebel Hugo Bachmann, kann dafür sorgen, dass da noch so einiges schief gehen wird mit ihrer Invasion. Seinen Krieg jedenfalls gibt er noch lange nicht verloren.

Als er Roger Gaillots dunklen Lockenkopf aus dem Métroschacht auftauchen sieht, zieht Bachmann seine Colonel-Henri-Baskenmütze aus der Tasche seines Jacketts. Hinter Gaillot erscheint Roche. Er erkennt ihn, weil er so aussieht wie auf den Fotos und wie Gaillot ihn beschrieben hat. Ungefähr sein eigener Jahrgang, Mitte 40, schlank, das hagere Gesicht eines Asketen, das dunkle Haar – er trägt keinen Hut – lichtet sich. Er könnte ein Intellektueller sein oder ein Generalstabsoffizier. Er steigt neben Gaillot aus dem Schacht und nachdem sie die Straße um den Arc de Triomphe überquert haben und sich ihm jetzt nähern, tritt Bachmann hinter den Kiosk zurück und lässt sie passieren. Wie geplant biegen sie in die Avenue de Wagram ein, gehen unter dem lichten Dach der Robinien auf der linken Seite in Richtung der Place des Ternes. Bachmann setzt seine Baskenmütze auf und folgt ihnen, und da sie es nicht eilig haben, lässt auch er sich Zeit, bleibt zehn, fünfzehn Meter hinter ihnen, beobachtet sie eine Weile. Er bemerkt, dass Roche ein wenig das linke Bein nachzieht, Gaillot hat ihm von der Verletzung aus dem Weltkrieg erzählt. Allerdings muss man schon sehr genau hinschauen, um Roches Behinderung zu erkennen. Der Mann hat sich im Griff.

Kurz nachdem sie die Rue de Tilsitt überquert haben, hat Bachmann sie eingeholt und tippt Gaillot von hinten leicht auf die Schulter. Abrupt bleibt der stehen, dreht sich zu ihm um und reißt, vielleicht eine Spur zu erschrocken, die Augen auf.

„Ach Sie! Hier?“

„Hallo Roger“, sagt Bachmann gemütlich. „Was für ein Zufall!“

Gaillot wendet sich zu Roche, der ebenfalls stehen geblieben ist: „Das, – das ist, wenn ich vorstellen darf, Colonel Henri“, stottert er und deutet auf Bachmann. „Der Abwehr-Offizier, der mir im April bei der Marsac-Geschichte geholfen hat…“

„Ach ja“, sagt Roche knapp und mustert Bachmann.

„Und das“, Gaillot, der sonst keineswegs auf den Mund gefallen ist, stottert weiter und deutet jetzt auf Roche, „ist Paul, mein Onkel. Mütterlicherseits. Ich glaube, ich habe Ihnen bisher noch nicht von ihm erzählt….“

„Sehr erfreut!“ Bachmann amüsiert sich über Gaillots spontane und naive Onkel-Erfindung und auch darüber, dass Gaillot Roche mit dessen nom de guerre, Paul, vorstellt; er setzt ein breites Lächeln auf und streckt Roche die Hand entgegen. Roche erwidert das Lächeln verhalten und mit einiger Verzögerung, mustert Bachmann ein, zwei Sekunden lang, bis er ihm die Hand reicht.

„Lange nicht mehr gesehen“, sagt Bachmann zu Gaillot. „Wir könnten einen kleinen Aperitif nehmen. – Was meinen Sie?“ Er wendet sich Roche zu. Wieder zögert Roche, überlegt kurz, dann nickt er.

„Warum nicht? Einverstanden“, sagt er. „Wir waren ohnehin auf dem Weg zum Tutulle in der Rue Troyon, gleich um die Ecke…“

„Ach wissen Sie“, grinst Bachmann geheimnisvoll. „Ich glaube, wenn ich ins Tutulle käme, würde die Hälfte der Gäste sofort aufstehen und ohne zu zahlen das Weite suchen.“

„Verstehe“, nickt Roche. 

Das Tutulle eine beliebte und von den Deutschen stillschweigend geduldete Anlaufstation für englische Agenten.

„Was schlagen Sie vor?“

„Setzen wir uns doch einfach dort vorne hin!“ Bachmann weist, als wäre es ein spontaner Einfall,  auf die ein paar Meter vor ihnen liegende Terrasse des Monte Carlo. „Wie es aussieht, ist da hinten in der Ecke noch ein Tisch frei.“

Sie bahnen sich einen Weg über die im Schatten einer orange-weißen Markise liegende Terrasse, auf der die Tische von sommerlich gekleideten, plaudernden Menschen besetzt ist. Säßen nicht an der anderen Hälfte der Tische picklige deutsche Mannschaften oder rotgesichtige deutsche Offiziere, man könnte glauben, man wäre im tiefsten Frieden.

Sie lassen sich in den gelben Rattan-Sesseln in einer Nische der Monte-Carlo-Terrasse nieder, die vom Bürgersteig kaum einzusehen ist. Deswegen hat Bachmann sie ausgesucht.

Wie aus dem Zauberhut erscheint augenblicklich der von Bachmann bestochene, in ein weißes Jackett gezwängte Kellner und fragt nach ihren Wünschen. „Ich hoffe“, sagt Bachmann jovial, nimmt dabei die Baskenmütze ab, wischt sich mit einem von Suzanne frisch gebügelten weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und schaut Roche lächelnd an, „Sie haben nichts dagegen, mein Gast zu sein.“

„Nun ja“, entgegnet Roche, der langsam seine Steifheit abzulegen scheint, „aber nur für die erste Runde. Die zweite übernehme selbstverständlich ich.“

„Einverstanden“, sagt Bachmann.

Sie bestellen; alle wollen Pastis, und während sie auf ihre Getränke warten, bemerkt Bachmann, dass Roche ihn beobachtet. Es scheint, als überlege er, wie er in das Gespräch einsteigen soll. Bachmann tut ihm nicht den Gefallen, es selbst zu eröffnen, genießt es, den anderen zappeln zu lassen. Schließlich platzt Roche direkt heraus: „Sie hatten also mit der Verhaftung André Marsacs zu tun?“

„Nicht direkt! Ich bitte Sie!“ Bachmann nimmt eine fast entrüstete Pose ein. „Ich war daran nur am Rande beteiligt.“

„Aber dann immerhin doch so viel, dass Sie Roger dabei helfen konnten, aus der Haft zu entkommen…?“

„Nun ja“, Bachmann holt ein wenig Luft und dehnt anschließend seine Worte, um eine präzise Antwort auf Roches Frage zu umgehen und gleichzeitig seine Show einzuleiten: „Irgendwann muss man sich in diesem Spiel entscheiden, auf welcher Seite man steht.“ Er macht eine Pause, sieht Roche in die Augen und fährt dann mit etwas leiserer Stimme fort: „Und damals, im April, als ich Marsac und Roger kennenlernte, habe ich mich für die andere, und ich denke die richtige Seite, entschieden…“

Er sagt das mit all der Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, die er auszudrücken in der Lage ist. Allerdings kann er an Roches Miene beobachten, dass die Wirkung noch ausbleibt.

„Roger konnten Sie helfen. Aber Marsac wohl nicht…?“ Auch Roche dehnt jetzt die Worte.

„Tja, Marsac…“, seufzt Bachmann.