Die Sozialdemokratisierung der Wissenschaft

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Der Fall der unter Plagiatsverdacht stehenden Doktorarbeit von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey schien vergessen, jetzt schlägt er wieder hohe Wellen. 

Der Begriff „Sozialdemokratisierung“ ist ambivalent. Negativ gemeint ist er, wenn konservative Christdemokraten eher liberalen Christdemokraten vorwerfen, sie betrieben eine „Sozialdemokratisierung“ der CDU. Positiv verwandt wird er, wenn damit gemeint ist, dass bisher den Reichen vorbehaltene Privilegien auch der arbeitenden Bevölkerung zugänglich werden. Abitur für alle! Berühmt werden könnte jetzt auch noch der Fall Giffey als die Sozialdemokratisierung der Wissenschaft.

Franziska Giffey absolvierte von 2002 bis 2010 als beamtete Europabeauftragte des Berliner Stadtteils Neukölln ein „berufsbegleitendes“ Studium der Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, FU. Das schloss sie mit einer Promotion ab. Thema: „Europas Weg zum Bürger“ ab. Der empirische Teil der Arbeit bestand im Kern in einer Bestandsaufnahme ihrer Tätigkeit als Europabeauftragte: Wie beschafft man aus Brüsseler Töpfen Geld für den Berliner Stadtteil Neukölln?

Trotz ihrer Schlichtheit hatten die Gutachter der Plagiats-Plattform Vroniplag an diesem Teil der Arbeit wenig auszusetzen. Umso mehr aber am Kapitel zur Begriffsklärung, dem eigentlichen wissenschaftlichen Teil der Arbeit. 119 Stellen fanden sie, die auf „wissenschaftliches Fehlverhalten“ hindeuteten. Nachdem sich daraufhin die Universität die Arbeit noch einmal ansah, missbilligte auch das dafür zuständige Gremium, die wissenschaftlichen Standrads darin seien „nicht durchgängig beachtet“ worden. Doch statt ihr den Doktortitel zu entziehen, beließ es die Universität bei einer bloßen „Rüge“.

Warum, hielt sie in einem geheimen Gutachten unter Verschluss. Da das aber ab heute nicht mehr geheim ist, erfahren wir, dass auch die Gutachter zu dem Schluss kamen, dass es sich bei der Dissertation um ein (Zitat) „sanktionswürdiges wissenschaftliches Fehlverhalten“ handelt, weil sie eine „größere Anzahl Textstellen“ enthält, in „denen eine objektive Täuschung“ vorliegt. Da dabei aber nur von einem „bedingten Vorsatz ausgegangen werden“ könne, plädieren die Gutachter statt Entzug für die Rüge.

„Andere Studierenden fallen durch Prüfungen, weil sie zwei Zitatangaben vergessen haben“, kommentiert eine Referentin des Allgemeinen Studentenausschusses der FU. Ganz offensichtlich handelt es sich bei Franziska Giffey aber nicht um eine der „anderen Studierenden“. Die Universität lässt ihr eine Sonderbehandlung zukommen. Denn die „Rüge“, die sie der jetzigen Ministerin erteilt, ist im Berliner Hochschulgesetz nicht vorgesehen. Bisher wurde ein Titel entweder entzogen oder durfte behalten werden. Warum aber erfand man extra für Frau Giffey die „Rüge“? Ein Narr, der Böses dabei denkt! Sie wird als künftige regierende Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin von Berlin gehandelt. 

Eine Wissenschaftssenatorin mit einer erpfuschten Doktorarbeit wäre einerseits natürlich, so der ASTA der FU, eine Bankrotterklärung des Wissenschaftsstandorts Berlin. Andererseits aber auch ein großer Schritt in Richtung einer Sozialdemokratisierung der Wissenschaft. Zuerst Abitur für alle. Jetzt Doktortitel für alle. 

WDR 3 Resonanzen 7. Oktober 2020