Saul Friedländer, Proust lesen

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Saul Friedländer, Proust lesen. Ein Essay. Aus dem Englischen von Annabel Zettel. Beck 2020. 208 Seiten. 22 Euro  https://www1.wdr.de/kultur/buecher/friedlaender-proust-lesen-ein-essay-100.html

Saul Friedländer gilt als einer der bedeutendsten Historiker des Holocaust. Diesen Ruf erlangte er mit seinem 1998 erschienenen zweibändigen Hauptwerk „Das Dritte Reich und die Juden“ – und durch die Art und Weise, wie er dieses Buch schrieb. Im Unterschied etwa zum anderen großen Holocaust-Historiker Raul Hilberg war ihm die emotionale Dimension der Geschichte wichtig, es war ihm wichtig, den Opfern eine Stimme zu geben. Dafür ist er von Historiker-Kollegen kritisiert worden, sie warfen seiner Methode und vor allem seinem Schreibstil „Literaturhaftigkeit“ vor. Dieser vielleicht vom Neid auf Friedländers Erfolg diktierte Vorwurf kann nicht die Wissenschaftlichkeit seines Werkes treffen. Er berührt jedoch eine Saite des Historikers Friedländer, nämlich seine literarische. In einem Interview zu seinem 2012 erschienen Buch über Franz Kafka bekannte er:

Meine Neigung gilt jedenfalls mehr der Literatur als der Geschichte. Ich lese nicht Geschichte, wenn ich Zeit habe. Ich lese zum vierten Mal den ganzen Proust, ich lese fast den ganzen Joyce, ist lese Flaubert. Wenn ich eine Religion habe, dann sind das Bücher, und zwar nicht das Schreiben, sondern das Lesen.

Deshalb erstaunt nicht, dass der Historiker Friedländer sich in seinem neuesten Buch mit seinem Lieblingsautor Marcel Proust beschäftigt. Und zwar versucht sein akribischer, literaturwissenschaftlich äußerst anspruchsvoller Essay dem Autor Proust auf die Schliche zu kommen. Also zu untersuchen, warum und wie der sich hinter dem Erzähler der „Suche der verlorenen Zeit“ versteckt. Und zwar geht es ihm dabei besonders um zwei Aspekte der Identität Prousts: Seine Homosexualität und seinen jüdischen Hintergrund. 

Beides versucht der Erzähler nämlich ganz im Unterschied zum Autor Proust, der offen homosexuell lebte und kein Problem mit dem Jüdischsein seiner Mutter hatte, zu verschleiern. Warum tut er das? – Zunächst einmal liegt die Parallelität von Homosexualität und Jüdischsein in der Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg auf der Hand. Proust selbst, d.h. sein Erzähler zieht eine solche Parallele am Anfang des dritten Bandes der „Suche“. Darin bezeichnet er die Homosexuellen als…

…ein Geschlecht, das in Lüge und Meineid leben muss, da es weiß, dass für sträflich und schmachvoll, für ganz uneingestehbar gilt, was sein höchstes Verlangen ist und als solches für jedes andere Geschöpf die größte Beseligung des Dasein bedeuten würde. Sie sind ausgeschlossen, – außer in den Tagen gnadenlosen Missgeschicks, wo sich die meisten doch wieder um das Opfer scharen wie die Juden um Dreyfus. – Wie die Juden meiden sie einander und suchen stattdessen jene, die ihnen am meisten entgegengesetzt sind, doch nichts von ihnen wissen wollen, deren raue Ablehnung sie aber zu verzeihen bereit sind.

Gegenüber beiden Gruppen, sowohl den Homosexuellen wie den Juden, verhält sich Prousts Roman-Erzähler sehr ambivalent. Zu assimilierten Juden äußert er sich positiv bis neutral, in der Dreyfus-Affäre stellt er sich, ganz wie Proust selbst, auf die Seite von Dreyfus und der „Dreyfusianer“. Auf der anderen Seite aber ist die ganze „Suche“ gespickt mit antisemitischen Äußerungen, teilweise auch widerwärtigen Beleidigungen, von denen der Erzähler sich keineswegs distanziert. So widersprüchlich wie zum Judentum stellt sich der Erzähler zur Homosexualität. Einerseits gibt es hasserfüllte Tiraden gegen Schwule, andererseits viele positive Schilderungen von Homosexualität. Überdies ist ganz offensichtlich, dass alle Mädchen- und Frauenfiguren getarnte Männer, die Liebesaffären des Erzählers versteckte homosexuelle Beziehungen sind. 

Wir sehen also, dass die Funktion des Erzählers – der Autor und zugleich doch nicht der Autor – darin besteht, Aspekte aus dem Leben des Autors zu verstecken, auf diese aber zugleich ausreichend getarnt anzuspielen, und beides mitunter in denselben knappen Zeilen.

Inszeniert Proust in der „Suche“ das Versteckspiel mit seiner eigenen Homosexualität, um die konventionelle Leserschaft nicht vor den Kopf zu stoßen? Das wäre, gesteht Friedländer ein, ein ziemlich schwaches Argument. Vielmehr läuft das Ergebnis seiner genauen Proust-Lektüre darauf hinaus, dass das im Versteckspiel enthaltene Zweideutige und Unentschiedene der umfassenden moralischen Ungewissheit des Romans entspricht. Hier gibt es keine eindeutigen Werte, keine Liebe ohne Verrat, keine Freundschaft ohne Missgunst. Eben diese Ambivalenz mache die „Suche“ zu einem modernen Roman. Doch dank eines ebenfalls ambivalenten literarischen Kunstgriffs, nämlich dem der „unwillkürlichen Erinnerung“, können sich in ihm zur Freude des Historikers Friedländer auch die Vergangenheit und die soziale Wirklichkeit spiegeln.

Wenn der Autor alles fest im Griff hat, dann erfüllt der Erzähler grundsätzlich eine duale Hauptfunktion: Er ist der verträumte Botschafter einer Gefühlswelt, jener der Kindheit, von Liebe und Schmerz; und er ist ebenso der scharfe Beobachter der sozialen Strömungen, von denen er umgeben ist.

WDR 3 Mosaik 23. Oktober 2020