Georges Simenon, Tropenkoller

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Georges Simenon, Tropenkoller. Roman. Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Ulrike Ostermeyer. Mit einem Nachwort von William Boyd. 192 Seiten. 22,90 Euro

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Mit großen Erwartungen kommt der 23-jährige Joseph Timar irgendwann Anfang der 1930er Jahre in Libreville an, der Hauptstadt der französischen Kolonie Gabun. Doch sein Plan, hier das große Geld zu verdienen, zerschlägt sich: Seinen Job im Landesinneren kann er nicht antreten. Das Boot, das ihn flussaufwärts bringen soll, ist kaputt. In dem Hotel, in dem er sich einquartiert hat, verfällt er sehr bald in Lethargie – und der Wirtin des Hotels, Adèle, obwohl er Zeuge wird, wie sie einen Schwarzen ermordet. Es kümmert ihn nicht weiter. Denn alle Weißen hier behandeln die Schwarzen wie Dreck. Timar lebt in den Tag hinein, trinkt viel zu viel und wartet – oft vergeblich – darauf, dass Adèle zu ihm ins Bett kommt. Die Hitze macht ihm zu schaffen. Ein wachsendes Gefühl von Sinnlosigkeit befällt ihn – und eine unendliche Müdigkeit.

Er wollte nicht müde sein! In Wirklichkeit konnte er sich kaum auf den Beinen halten, obwohl er nicht arbeitete, nicht das geringste tat. Es war eine Müdigkeit, die von einer inneren Kraftlosigkeit herrühren musste und die sich vor allem in einer Leere im Kopf und einer vagen Angst äußerte, die ihn manchmal erzittern ließ, als wäre er in Gefahr.

Diese „innere Kraftlosigkeit“ verlässt Timar auch nicht, nachdem Adèle ihn dazu überredet hat, mit ihrem Geld und durch die Protektion seines Onkels im Landesinnern eine Konzession zum Baumfällen zu erwerben. Sie fahren flussaufwärts und treffen auf die Baumfällerkolonne. Wie in Trance und schließlich halb bewusstlos beobachtet Timar während eines Anfalls von Dengue-Fieber ihre Arbeit. Als er aus dem Fieberdelirium erwacht, ist Adèle verschwunden. Zurück nach Libreville, wie man ihm sagt. Er folgt ihr in einem mit zwölf schwarzen Ruderern besetzten Boot flussabwärts. Und zum ersten Mal, seitdem er in Afrika ist, betrachtet er in der schönsten, lyrischsten Passage des Romans die Schwarzen, – zuerst mit „wohlwollender Neugier“, dann mit Sympathie, – „wie Menschen“. 

Die zwölf Ruder tauchten gleichzeitig aus dem Wasser auf, spritzten Wasserperlen in die Sonne und verharrten einen Augenblick in der Luft, ehe sie sich wieder senkten, während ein Klagelied aus den Männerkehlen erklang, immer wieder der gleiche traurige Gesang.

In Libreville beobachtet Timar den Prozess, der inzwischen doch wegen des Mordes gegen Adèle angestrengt wurde. Am Ende sagt er gegen sie aus und wird von den Honoratioren der Stadt, die alle ein Verhältnis mit ihr hatten, dazu genötigt, nach Frankreich zurückzukehren. Nun, dem Irrsinn vollständig verfallen, besteigt er das nächste Schiff.

Immer noch drehten sich Leute nach ihm um, wenn er an Deck vorüber ging. Aber er war so gelassen, dass er Lust hatte, dieses ruhige Blut wieder etwas in Wallung zu bringen und so sagte er laut, während er mit fiebrigen Augen ironisch in die Gesichter blickte: „Afrika, das gibt es nicht!“

Man muss „Tropenkoller“ als einen antikolonialistischen Roman lesen, denn das Verhalten der Weißen darin wird als das beschrieben, was es tatsächlich war, als ausbeuterisch und menschenverachtend. Doch gerät die Erzählung nicht zu einer plakativen politischen Anklage, sondern sie konzentriert sich darauf, wie der Kolonialismus die Kolonialisten selbst zerstört, sie korrumpiert und moralisch aushöhlt. In fiebrigen, beklemmenden Bildern gelingt es Georges Simenon, das zu beschreiben. Es ist ein umgekehrter Bildungsroman. Statt sich selbst findet Joseph Timar in den Kolonien den Wahnsinn. Den des Kolonialismus – und damit auch seinen eigenen. 

WDR 5 Bücher, 16. Januar 2021