Naika Foroutan/Jana Hensel, Die Gesellschaft der Anderen

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Ein Gespräch mit Uli Hufen

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-gutenbergs-welt/neu-in-d-100.html

Uli Hufen: In den letzten Jahren ist eine Debatte aufgekommen, die fragt: Was haben Ostdeutsche und Migranten miteinander gemein? Was nicht? Zu den Protagonisten dieser Debatte gehören zwei Frauen: die Journalistin Jana Hensel und die Soziologin Naika Foroutan. Die beiden haben jetzt gemeinsam ein Buch gemacht, Peter Meisenberg hat „Die Gesellschaft der Anderen“ gelesen, Herr Meisenberg — vielleicht stellen wir die beiden erstmal vor. Jana Hensel kennen viele Hörer als Buchautorin und Journalistin für die ZEIT. Aber hier ist ihre Biografie wichtig, was erfahren wir über sie

PM: Das fand ich ganz interessant, wie sie berichtet, dass sie 1989, da war sie 13 Jahre alt, die Revolution, diese stille Revolution in der DDR mitgemacht hat, weil ihre Mutter – die wohnten nicht in Leipzig – sie ist mit ihrer Mutter dann nach Leipzig gefahren und die beiden haben dann an den Montagsdemonstrationen teilgenommen. Und das war für sie ganz offenbar ein prägendes Erlebnis, sie erzählt, dass sie als 13-jährige dort eine solidarische Gesellschaft erlebt habe. Das hat sie tief beeindruckt und ihre Liebe zur DDR begründet, diese Erfahrung, dass da das Volk, die Menschen sich selbst ermächtigt, ihre Stimme erhoben haben. In der Folge, in den 90er Jahren hat sie dann ziemliche Demütigungen, Verletzungen dieser starken emotionalen Bindung an die oppositionelle Gesellschaft der DDR erfahren, indem sie als Ostdeutsche abgewertet worden ist, weil die Westdeutschen sagten: Warum werdet ihr nicht so wie wir, warum seid ihr immer noch so verstockt.

UH: Jana Hensel eine ostdeutsche Journalistin, Buchautorin, die auch genau über dieses Thema sehr viel schreibt, seit vielen Jahren schon. Naika Foroutan, – was erfahren wir über sie?

PM: Es ist eine interessante Parallele, weil sie lebte im Iran und ist mit ihren Eltern ebenfalls zu Demonstrationen gegangen, weil ja damals die Revolution gegen den Schah stattgefunden hat. Ihre Eltern waren beide Oppositionelle und so hat sie dann eine ähnlich starke Identifikation mit diesem Land und dem Volk erlebt. Der Vater war ein führender Oppositioneller im Iran damals, musste fliehen, also die ganze Familie ist dann geflohen. Und sie sind dann in den Geburtsort ihrer Mutter zurückgegangen, nach Boppard. Und das Witzige jetzt an dieser Biografie ist, dass sie dann im Haus ihrer Großmutter lebte, und dieses Haus hieß „Das Deutsche Haus“, es war nämlich ein Hotel.

UH: Also ziemliche viele Parallelen, diese Frauen ungefähr gleich alt, sie teilen die Erfahrung, dass sie als Teenager nach Westdeutschland gekommen sind. Und dann gibt es noch eine interessante Sache, die die beiden teilen, nämlich einen Moment, in dem sie beschlossen haben, sich sehr viel mehr als früher zu identifizieren mit – im Fall von Jana Hensel mit ihrer ostdeutschen Vergangenheit, und im Fall von Naika Foroutan mit der als Muslimin und Migrantin. Wie kam das bei den beiden?

PM: Ich glaube das hängt damit zusammen, dass beider Väter nicht klar gekommen sind mit den westdeutschen Verhältnissen. Naika Foroutans Vater war im Iran ein berühmter Fußballtrainer, ein sehr beliebter Mann, der hat sogar mal die Nationalmannschaft da trainiert, – und der kam hier im Westen einfach nicht klar. Ebenso ging es dem Vater von Jana Hensel, der hatte sich vorher schon von der Familie getrennt und versuchte dann im Westen eine Karriere als Unternehmer zu machen und ist damit gescheitert. Also dieses Scheitern der Väter ist glaube ich für sie das einschneidende Erlebnis gewesen. Durch diese parallele gemeinsame Erfahrung des Scheiterns der Väter ist bei beiden eine Sensibilität dafür entstanden, dass sie etwas anderes sind als die anderen. So haben sie sich eben als „Andere“ auch erfahren.

Das ist auch der zentrale soziologische Begriff, um den das Gespräch der beiden kreist, nämlich das – im Englischen: Othering, – die „Veranderung“. Dieser Begriff bedeutet, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre Macht daraus zieht, dass sie sich Gruppen herauspickt und zu „Anderen“ macht, mit negativen Stigmata belegt. Und nur über die Verachtung der Anderen kann diese Mehrheitsgesellschaft zu sich selbst, ihre eigene Identität finden. Das ist glaube ich das zentrale begriffliche Instrumentarium, was hier zu Debatte steht.

UH: Die beiden, Jana Hensel und Naika Foroutan, fanden offenbar zueinander, nachdem Jana Hensel eine Studie von Naika Foroutan gelesen hatte, sie las das und hatte ein sehr starkes, bewegendes Gefühl. Nämlich das Gefühl, diese muslimische Frau, Migrationsforscherin, versteht mich und meine ostdeutsche Erfahrung sehr viel besser als viele Westdeutsche, sogar als die meisten Westdeutschen. Was genau hat denn Naika Foroutan da erforscht und worin sieht sie die Parallelen zwischen ostdeutschen und migrantischen Erfahrungen?

PM: In ihrer Studie, die dem Gespräch auch zugrunde liegt, hat sie untersucht, dass es einen Mechanismus in der Mehrheitsgesellschaft, d,h. der Dominanzgesellschaft, der Gesellschaft gibt, die die Normen für alle anderen vorgibt. Und zwar ist dieser Mechanismus, dass sie die Gruppen, die sie zu „Anderen“ macht, als Extremisten bezeichnet. Also bei den Migranten, die macht die Mehrheitsgesellschaft gerne alle zu „den Muslimen“ und – betrachtet sie als „Islamisten“. Und die Ostdeutschen werden zu „Extremisten“ gemacht, indem man ihnen die Fähigkeit zur Demokratie aberkennt. 

UH: Jetzt sind beide sehr kluge Frauen, die eine Journalistin, Buchautorin, die wissen natürlich, dass es auch sehr große Unterschiede gibt zwischen muslimischen Migranten aus dem Iran zum Beispiel und Ostdeutschen in der Bundesrepublik. Wo liegen die Unterschiede?

PM: Der Unterschied liegt ja auf der Hand: Migranten sehen schon anders aus als die Mehrheit der Deutschen. Die haben eine andere Hautfarbe, man kann sie sofort als Andere, als Fremde identifizieren. Und das ist ja bei den Ostdeutschen überhaupt nicht der Fall. Man sieht einem Ostdeutschen ja nicht an, dass er auch ein „Fremder“ ein „Anderer“ ist. Und da fängt, finde ich, schon das Problem an, dass es sehr schwierig ist, diese beiden Gruppen zuparallelisieren und eine Analogie zwischen beiden Gruppe herzustellen. 

UH: Die beiden haben eine Debatte angestoßen und natürlich gibt es auch heftige Kritik an diesem Modell, Ostdeutsche als Migranten zu begreifen. Was sind die entscheidenden Punkte bei dieser Kritik und wie reagieren die beiden darauf?

PM: Bei mir war es so, dass ich bei der Lektüre den Eindruck hatte, dass die methodisch unsauber arbeiten. Und zwar, indem sie beide Gruppen – dieMigranten und die Ostdeutschen – als einheitliche, homogene Gruppen betrachten. Und das finde ich falsch. Man müsste da doch viel stärker differenzieren innerhalb der Migranten und auch innerhalb der Ostdeutschen. Weil die ostdeutsche Gesellschaft – wenn man die überhaupt als Separatgesellschaft betrachten will – die hat ja mittlerweile genau die gleichen sozialen Differenzierungen und Unterschiede wie in den alten Bundesländern. – Da gehen beide zu sehr von ihren eigenen Gefühlen aus und betreiben so eine Art Gefühlssoziologie. Und: Sie betreiben eine Art Identitätspolitik, indem sie sich durch die Homogenisierung ihrer Gruppen für deren Emanzipation stark machen, für deren Gleichbehandlung in der Gesellschaft, und diese Identitätspolitik vertuscht die wirklichen Differenzen und Gegensätze in unserer Gesellschaft. 

UH: Wir haben schon darüber geredet, wie die beiden zueinander gefunden haben und es ist auch offensichtlich, dass sie viel Sympathie füreinander haben, – jetzt reden die in diesem Buch – es sind 350 Seiten – miteinander: Sind die sich eigentlich immer einig oder gibt es auch Dinge, wo sie miteinander in Konflikt geraten und sich streiten?

PM: Im Wesentlichen sind sie sich schon einig, das stimmt, es ist ein sehr harmonisches Gespräch. Nur am Schluss wird dann doch ein bisschen der Unterschied deutlich, und zwar beharrt Naika Foroutan darauf, dass die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen – die sozialen, ökonomischen Unterschiede – gar nicht mehr so stark sind, auch nicht die mentalen Unterschiede. Und das ist ein Punkt, auf den Jana Hensel besteht. Ein weiteres „Vorurteil“, was Naika Foroutan formuliert, ist, dass sie den Ostdeutschen eine rassistische Grunddisposition unterstellt und damit eigentlich das gleiche Muster wiederholt, was beide vorher angegriffen haben. 

UH: Bei aller Kritik an diesem Buch – sie haben einige wichtige Punkte formuliert: Würden Sie sagen, es ist trotzdem ein Buch oder auf jeden Fall ein Buch, wo man lernt, mit anderen Augen auf unsere Realität zu sehen, auf die bundesdeutsche „Normalität“?

PM: Ja. Das lange Format hat mich natürlich ein bisschen genervt, weil es sehr viele Redundanzen hat und es da sehr viel Gefühlspolitik gibt. Aber was ich da gelernt habe und was mir bis dahin überhaupt noch nicht klar war: Welche Kränkungen die Ostdeutschen erfahren haben dadurch dass der Westen die 1990 einfach vereinnahmt hat. Und dass man eben dauernd gesagt hat: Ihr seid schlecht, ihr müsst so werden wie wir. Und das war mir bisher in meiner westdeutschen Borniertheit überhaupt noch nicht klar. Und deswegen habe ich das mit Gewinn auch gelesen.

WDR 3 Gutenbergs Welt 30.Januar 2021

Naika Foroutan/Jana Hensel, Die Gesellschaft der Anderen. Aufbau-Verlag 2020. 356 Seiten. 22 Euro