Toon Horsten, Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Galiani Berlin 2021. 287 Seiten. 24 Euro
Die Bedeutung des Philosophen Edmund Husserl und seiner als exakte Wissenschaft verstandenen Philosophie, der Phänomenologie, stand spätestens Anfang der 1930er Jahre ohne Zweifel fest. Der junge französische Philosoph Raymond Aron reist, um sie kennenzulernen, eigens nach Deutschland und kehrt begeistert zurück. Im Frühjahr 1933 trifft er im Pariser Café Bec de Gaz in der Rue Montparnasse seinen Freund Jean-Paul Sartre, sie trinken Aprikosencocktails und Aron erklärt, dass man mit Husserls Methode aus allem im Leben Philosophie machen könne.
Siehst du, mon petit camerade – wenn du Phänomenologe bist, kannst du auch über diesen Cocktail sprechen, und das ist dann Philosophie.
Neben Sartre lässt sich eine ganze Generation junger französischer Philosophen von Husserl begeistern – unter anderem Emmanuel Levinas und Maurice Merleau-Ponty. In Deutschland dagegen ist Husserl zu dieser Zeit persona non grata, – weil er Jude ist. Aber auch, weil seine Philosophie von seinem früheren Lieblingsschüler und dem jetzigem Hitler-Anhänger Martin Heidegger eifrig als „trivial“ denunziert wird. – In der belgischen Universitätsstadt Leuven sieht das ein junger Franziskanerpater namens Herman Leo van Breda ganz anders. Nach seiner Priesterweihe hat van Breda angefangen, Philosophie zu studieren und im Jahr 1938 schreibt der 27-jährige an seiner Doktorarbeit – über das Spätwerk Husserls.
Van Breda hat nicht eine, sondern zwei Berufungen – Gott und Husserl. Und er dient seinen zwei Herren mit gleichem Eifer.
Der belgische Publizist Toon Horsten beschreibt in seinem spannend wie ein Krimi geschriebenen Buch, mit welchem nahezu obsessiven Eifer van Breda sich dem Werk und dem Vermächtnis Edmund Husserls widmet. – Ein paar Monate nach Husserls Tod im April 1938 reist er zu dessen Witwe nach Freiburg. Sie fasst Vertrauen zu dem sympathischen Pater und übergibt ihm den Nachlass ihres Mannes: 40.000 eng beschriebene handschriftliche Seiten, verfasst allerdings in einer Art Geheimschrift, der Gabelsberger Kurzschrift. In einer abenteuerlichen Aktion schmuggelt van Breda die in drei Koffern verpackten Manuskripte durch Nazideutschland und deponiert sie schließlich im Archiv seiner Universität in Leuven. Anschließend bringt er Husserls jüdische Witwe Malvine in einem katholischen Leuvener Altenheim in Sicherheit. Dann kümmert er sich um die Transkription des Husserlschen Nachlasses. Er gewinnt dazu die früheren Assistenten des Philosophen, Eugen Fink und Ludwig Landgrebe, die wegen ihrer jüdischen Ehefrauen in Deutschland gefährdet sind, verschafft ihnen Stellen an der Leuvener Universität. Die dritte Assistentin Husserls, die inzwischen zum Katholizismus konvertierte und in den Karmeliterinnen-Orden eingetretene Edith Stein, besucht er 1942 in ihrem Kloster im niederländischen Limburg. Er schlägt ihr vor, sie in Belgien vor den Nazis zu verstecken. Doch sie lehnt, wie er später berichtete, ab:
Als ich konkrete Vorschläge machte, spürte ich Abwehr. Um es zu sagen, wie es ist – diese Frau suchte den Tod als Märtyrerin für ihr jüdisches Volk. So hat es sich zumindest für mich angefühlt.
Wenig später wird Edith Stein nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. – In dem seit 1940 von den Deutschen besetzten Leuven steht die Arbeit am geplanten Husserl-Archiv zunächst still. Die Mitarbeiter Fink und Landgrebe werden vorübergehend deportiert und kehren nicht mehr zurück. Doch van Breda lässt nicht locker. Er versteckt die Manuskripte über ganz Belgien und die Niederlande verteilt, meist in katholischen Einrichtungen, und besorgt den österreichisch-jüdischen Philologen Stephan Strasser als ihren „Übersetzer“. Bis zum Kriegsende arbeitet van Bredas Archiv im Untergrund. Danach sucht der Pater dafür überall, vor allem aber bei der UNESCO, finanzielle Unterstützung, sammelt dazu Unterschriften, unter auch die von Jean Paul Sartre. Sartre empfängt ihn herzlich. Nur dessen Gefährtin Simone Beauvoir bleibt bei der Begrüßung distanziert.
Einem katholischen Geistlichen gebe ich nicht die Hand.
Andere Franzosen hatten diese Berührungsängste gegenüber dem von van Breda aufgebauten katholischen Netzwerk nicht. Insbesondere nicht der Philosoph Emmanuel Levinas, der van Breda mehrfach in Leuven besucht und durch seine Unterstützung mit dazu beiträgt, dass der Pater 1947 zum offiziellen Herausgeber der Werke Husserls wird und ab 1950 die nachgelassenen Schriften des Phänomenologen als „Husserliana“ erscheinen. – 1972 widmete Levinas sein Buch „Humanismus des anderen Menschen“ dem Leuvener Pater und schreibt darin über den immer gut gelaunten van Breda:
Seine Güte und seine akademische Feinsinnigkeit manifestierten sich immer in diesem Lachen, in der Fröhlichkeit des zufriedenen Bauern, der weiß, dass er dem Teufel ein Schnippchen geschlagen hat.
WDR 3 Mosaik 23. April 2021