Das Ende einer Opferbehörde?

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Heute, am symbolträchtigen Datum des 17. Juni wird die vormalige Stasi-Unterlagen-Behörde aufgelöst und geht organisatorisch und mit ihren Beständen ins Bundesarchiv über. Der 17. Juni 1953 war der Tag des ersten antistalinistischen Arbeiteraufstandes in der DDR. Bis zum Jahr 1990 – dem Jahr der Wiedervereinigung, war er der (west-) deutsche Nationalfeiertag. Das Datum der Übergabe ist nicht nur symbolpolitisch. Die Stasi-Unterlagen-Behörde ist quasi von den Nachfahren dieses Aufstandes erzwungen worden. Nach dem Fall der Mauer stürmten die Opfer der DDR-Diktatur die Büros der Staatssicherheit und nahmen der Unterlagen in Beschlag. Die vormalige Stasi-Unterlagen-Behörde machte sie allen Opfern zugänglich. 

Der Spielfilm „Das Leben der Anderen“ aus dem Jahr 2006 hat eine scheinbar versöhnliche Pointe. Der vom Stasi-Spitzel Wiesler ausspionierte Schriftsteller Dreymann erfährt erst nach dem Ende der DDR von dieser Bespitzelung. In der Stasi-Unterlagen-Behörde entdeckt er, dass der auf ihn angesetzte Spitzel mit dem Decknamen „HGW XX/7“ ihn gegenüber seiner Behörde deckte und vor einer Strafverfolgung beschützte.

Die allermeisten Opfer des allumfassenden Systems der Stasi-Bespitzelung hatten dieses Glück nicht. Vielen von ihnen zerstörte es die Familie, den Freundeskreis und die berufliche Karriere, viele brachte es ins Gefängnis, viele trieb es in den Selbstmord. In der Stasi-Unterlagen-Behörde konnten sie nach 1989 anhand der dort gesammelten Akten den Umfang ihrer Bespitzelung nachvollziehen, die oft tief in den Freundes- und Familiekreis ging. Sie konnten nachlesen, wie sie ausgehorcht wurden und wer sie aushorchte, wer sie verraten und betrogen hatte.

Diese Behörde leistete über 30 Jahre eine ungeheuer wichtige und vor allem: eine absolut notwendige Aufgabe. Notwendig war sie, weil sie den Menschen der ehemaligen DDR die Augen über den Charakter des politischen Systems öffnete, in dem sie lebten. Sie leistete das an Aufarbeitung einer Diktatur, was man sich nach deren Ende 1945 auch von der Nazi-Herrschaft gewünscht hätte: Die Aufklärung über die Verstrickung der Einzelnen in die Machenschaften des Systems. So konnten die Opfer wenigstens im Nachhinein die Deutung ihrer eigene Biografie für sich zurück gewinnen.

Mit der Auflösung der Stasi-Unterlagen-Behörde beziehungsweise ihre organisatorische Überführung ins Bundesarchiv wird diese Möglichkeit nicht beendet. Die Befürchtungen, die Stasi-Unterlagen würden im Bundesarchiv in Koblenz „versenkt“, sind nicht berechtigt: Die einzelnen Behörden bleiben als Außenstellen des Bundesarchivs bestehen und ihre Bestände nach wie vor für Recherchen aller Betroffenen einsehbar.

Zusammen mit den Unterlagen der Staatssicherheit werden jetzt im Bundesarchiv aber auch andere Dokumente und Akten der DDR zugänglich sein. Und damit die Möglichkeit bestehen, sich über die Stasi hinaus ein Bild über den SED-Staat, dessen Massenorganisationen und über die Formierung der „realsozialistischen“ Gesellschaft zu machen. Das ist etwas, was nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter des untergegangenen Regimes interessieren dürfte.

Im Film „Das Leben der Anderen“ hat der Schriftsteller Dreymann zwei Jahre nach der Wende einen Roman über seine Geschichte geschrieben. Wiesler, der Spitzel „HGW XX/7“, der sich inzwischen mit dem Verteilen von Wurfsendungen durchschlägt, entdeckt das Buch in der Auslage einer Buchhandlung. Er schlägt es auf und sieht die Widmung „Für HGW XX/7. In Dankbarkeit.“. Er kauft das Buch. „Geschenkpapier?“ fragt der Verkäufer. „Nein“, antwortet Wiesler. „Ist für mich.“

WDR 3 Mosaik, 17. Juni 2021