Jugendsünden

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Am vergangenen Samstag wurde die 20-jährige Sarah-Lee Heinrich zur Bundessprecherin der Grünen Jugend gewählt. Pünktlich zu dieser Wahl – also mit hoher digitaler Professionalität – erschienen überall im Netz und vor allem bei Twitter Screenshots von Twitter-Posts, die Heinrich als 14- und 15-jähre abgesetzt hat. Zu lesen gibt es da „NICHT ALLE MÄDCHEN MÖGEN BLUMEN DU SEXISTISCHES SCHWEIN“ oder sie spricht von einer „EKLIGEN WEISSEN MEHRHEITSGESELLSCHAFT“. Diese Screenshots wiederum hatten einen Shitstorm gegen die Grüne Nachwuchspolitikerin zur Folge, der in einer Reihe von Morddrohungen gipfelte. Woraufhin sie sich für ihre „Jugendsünden“ entschuldigte und sich zunächst einmal aus der Öffentlichkeit zurückzog.

„Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer es mit 40 noch ist, hat keinen Verstand.“ Dieser fälschlich Winston Churchill in den Mund gelegte Zynismus scheint auf den ersten Blick die politische Jugendsünde zu legitimieren. Denn er legt ja nahe, dass der Betreffende mit zunehmendem Alter politisch weise oder klug wurde, sein „Herz“ trotzdem aber irgendwie behalten hat. – Genauer betrachtet aber beinhaltet er ein eindeutiges politisches Statement. Danach sind Kommunismus, Sozialismus oder Liberalismus – denn im Original heißt es „wer mit 20 nicht liberal ist“ – grundsätzlich dumme und mithin verachtungswürdige Positionen. In diesem Sinne kann es also gar keine Jugendsünde geben, keinen Fehler, der später verzeihbar ist.

So versteht sich auch der über Sarah-Lee Heinrich hereinbrechende Shitstorm: Er ignoriert das Alter, in dem sie ihre deftigen, politisch nicht korrekten Sprüche postete, reißt sie aus dem Kontext, tut also so, als wenn sie sie gerade geäußert hätte und macht sie jetzt dafür verantwortlich. Er folgt einem politischen Kalkül, will diffamieren, will zerstören und zielt dazu sehr professionell in die Schwachstellen digitaler Jugendbiografien. Und die finden heutzutage nun einmal in einer Öffentlichkeit statt, in der nichts vergessen werden kann und auch nichts vergessen wird. Geschweige denn verziehen.

Nun ist es beileibe nicht so, dass in der vordigitalen Zeit die Jugendsünden schneller oder leichter vergessen oder verziehen wurden als jetzt. Bis zum Ende seines Lebens heftete eine rechte Öffentlichkeit Willy Brand sein politisches Exil als Landesverrat an und vergaß nie, dass Herbert Wehner einmal Kommunist gewesen war. Und selbst in hundert Jahren wird man Joschka Fischer weder vergessen noch verzeihen, dass er mit 20 mal Steine geworfen hat, – oder haben soll. Insofern ist also die Denkfigur der Jugendsünde eine Kippfigur: Will man jemanden diffamieren, gibt es keine Jugendsünde. Mag man dagegen jemanden, verzeiht man ihm fast alles.

In dieser letzten Version unterstellt die „Jugendsünde“ gutmütig die Wandlungsfähigkeit einer Person und ihrer politischen Haltung. Winston Churchill war ganz im Gegensatz zu dem ihm untergeschobenen Zitat in seiner Jugend ein konservativer bis reaktionärer Imperialist und Kriegstreiber, erst ab 35 wurde er ein Liberaler. Umgekehrt verhält es sich übrigens mit Anabel Schunke, einem twitternden Model. Sie trieb bei ihren 40.000 Followern auf Twitter die Kritik an Sarah-Lee Heinrich entschieden an. Vor sieben Jahren, 2014, trat sie bei der Stadtratswahl in Goslar für die Partei Die Linke an. 

Was Schunke unter den „Jugendsünden“ Heinrichs besonders verwerflich fand, war deren Tweed über die „rassistisch durchzogene“ „eklige weiße Mehrheitsgesellschaft“. Eine Aussage, die auch Pauline Voss, die Kommentatorin der Neuen Züricher Zeitung als eine „extreme Beleidigung“ wahrnahm. Sarah-Lee Heinrich ist schwarz. Ihre beiden Kritikerinnen sind weiß. Mehr muss man eigentlich gar nicht sagen.

WDR 3 Resonanzen 12. Oktober 2021