Pflicht und Gewissen

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Heute morgen hat das Bundesverfassungsgericht sämtliche harten Maßnahmen der sogenannten „Bundesnotbremse“ wie Ausgangssperren und Ausgangssperren für verfassungskonform erklärt. Seitdem mehren sich in den Parteien die Stimmen, diese harten Maßnahmen wieder konsequent anzuwenden. Das gipfelt in der Forderung nach einer „allgemeinen Impfflicht“. Da eine solche Impfflicht einen Eingriff in die vom Grundgesetz garantierte körperliche Integrität bedeute, schlägt der designierte FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann vor, bei einer möglichen Abstimmung im Bundestag darüber die Abgeordneten vom Fraktionszwang zu befreien und nur nach ihrem „eigenen Gewissen“ abstimmen zu lassen.

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Die Philosophie der Aufklärung räumt dem Gewissen einen hohen Wert ein. Immanuel Kant bezeichnet es als das Bewusstsein eines „inneren Gerichtshofs“ im Menschen. Im Gewissen finde er sich durch einen „inneren Richter“ beobachtet und bedroht; dem könne er nie entfliehen, denn das Gewissen sei dem Wesen des Menschen einverleibt. Es sei deshalb seine Pflicht, sein Gewissen zu kultivieren.

In dieser Tradition der Hochschätzung des Gewissens steht auch das Grundgesetz. In seinem Artikel 38 Absatz 1 heißt es, dass die Abgeordneten des Bundestages an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und „nur ihrem Gewissen unterworfen“ seien. – Es gibt kaum einen weiteren Satz im Grundgesetz, der in größerem Widerspruch zur Realität steht. Denn eine Vielzahl von Regeln zwängt die Abgeordneten erheblich ein. Nicht ihr Gewissen, sondern der Fraktionszwang bestimmt den parlamentarischen Alltag.

Wie einschnürend dieser Zwang ist, zeigt sich in der Redeweise der Fraktionsspitzen, wenn sie in ganz besonderen Fällen ausnahmsweise einmal ein Thema zur Gewissenfrage erklären und die Abstimmung dazu „freigeben“. In aller Regel aber bestehen sie auf den Fraktionszwang, und das, obwohl es einen solchen Zwang formell gar nicht gibt. Die faktischen Folterinstrumente der Fraktionsvorsitzenden dagegen können eine Parlamentskarriere im Handumdrehen zerstören und lassen deshalb in aller Regel die Abgeordneten ihr Gewissen vergessen und der Parteidisziplin folgen.

Ausnahmen von dieser Regel waren bisher meist solche „Gewissensentscheidungen“, die mit den vom Grundgesetz garantierten Persönlichkeitsrechten zusammenhingen: Etwa die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, der Organspende oder der Präimplantationsdiagnostik. In diese Reihe stellt nun der FDP-Mann Marco Buschmann seinen Vorschlag, die Impfflicht im Bundestag zur Gewissensfrage zu machen. Denn sie stelle einen womöglich unverhältnismäßigen „Grundrechtseingriff in die körperliche Integrität“ dar.

Ob eine allgemeine Impfflicht tatsächlich einen solchen Eingriff in die körperliche Integrität bedeuten würde, ist allerdings nicht ausgemacht und Gegenstand einer breiten Diskussion. An deren Ende könnte herauskommen, dass es beim Impfen nicht nur um den Schutz des eigenen Lebens geht, sondern auch um das derjenigen, die sich nicht schützen können. Und dass daraus eine moralische Pflicht zum allgemeinen Impfen erwächst, die eine gesetzliche Pflicht zur Folge haben könnte.

Marco Buschmanns Appell ans Gewissen der Abgeordneten kann, obwohl er gewiss parteitaktischem Kalkül entstammt, diese Diskussion durchaus befeuern und sie zu einer wahrhaft moralischen Diskussion um die Pflicht machen. Denn, um noch einmal auf Kant zurückzukommen: Nur das Handeln aus Pflicht kann als moralisches Handeln gewertet werden.

WDR 3 Resonanzen 30. November 2021