Steffen Mau, Sortiermaschinen

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Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, C.H. Beck, 189 Seiten, 14.95

Ein Gespräch mit Uli Hufen

Uli Hufen: Steffen Maus neues Buch heißt Sortiermaschinen. Untertitel: Die Neuerfindung der Grenzen im 21. Jahrhundert. Peter Meisenberg, – was will Steffen Mau uns mit diesem Untertitel nun sagen? Ist die Globalisierung jetzt vorbei? Die ganzen schönen Feiertagsreden über unser „Europa ohne Grenzen“ jetzt Makulatur?

PM: Wenn ich das richtige verstanden habe, bestand für Steffen Mau nie ein wirklicher Anlass dazu, von „Globalisierungsoptimismus“ zu reden. So paradox das klingt: Globalisierung hat nach seiner Ansicht Grenzen erst neu erschaffen und schafft sie immer wieder. Dazu muss man wissen: Steffen Mau versteht unter Globalisierung nicht das, was wir immer glauben, dass Globalisierung eine Verschränkung der Ökonomien ist, sondern er fasst Globalisierung allein als Verkehr von Personen über die Welt. Und da ist natürlich zu beobachten, dass die Mobilität der Menschen weltweit seit dem Zweiten Weltkrieg enorm zugenommen hat.

UH: Und was meint Mau nun konkret, wenn er sagt, dass die Globalisierung neue Grenzen geschaffen hat? Auf den Landkarten sieht man das ja nicht.

PM: Nein, auf den Landkarten sieht man das natürlich nicht. Aber das paradoxe Phänomen ist ja, dass die Zunahme der Mobilität von Menschen gleichzeitig die Staaten zwingt, diese Menschenströme, die über die Welt reisen, zu kontrollieren: Die Globalisierung bringt so Grenzen nicht zum Verschwinden, sondern sie erzwingt fortlaufend neue Grenzen nach Steffen Mau. Und zwar, um jetzt seinen Begriff der „Sortiermaschine“ zu benutzten: Mit der wachsenden Mobilität der Menschen wächst auch das Bedürfnis der Staaten, den Personenverkehr zu kontrollieren, also zu selektieren: Wen lasse ich rein, wen lasse ich draußen?

UH; Wie das in der Realität aussieht, kann man ja jeden Tag in den Nachrichten sehen: Im Mittelmeer ertrinken Flüchtlinge, die wir nicht reinlassen wollen, im Ärmelkanal ertrinken Flüchtlinge, die England nicht reinlassen will; an der Grenze zwischen Belarus und Polen erfrieren Flüchtlinge, die niemand reinlassen will. Wie geht denn Steffen Mau mit diesen Nachrichten um? Sind die wichtig in seinem Buch?

PM: Ich würde sagen, er bringt all die Bilder, die uns täglich überfluten, bringt er auf Begriffe. Also wir sehen, dass täglich Millionen Menschen auf dem Weg sind von einem Land zum anderen, aber diese Verteilung der Bewegung der Menschen, der Mobilität, ist ungleich: Die Leute im Norden überwinden mühelos alle Begrenzungen und die anderen, die meistens aus dem Süden kommen, werden in ihren Ländern gehalten, Mau verwendet dazu den Begriff „lokalisiert“. Globalisierung ist also ein doppelbödiger Prozess: Öffnung und Schließung gleichzeitig. Allerdings müssen wir, wenn wir jetzt auf Belarus zu sprechen kommen: Diese Grenze, die wir in Belarus sehen, die nennt Mau eine befestigte Grenze, also die klassische Grenze mit Stacheldraht bewehrt, mit Mauern. Und das ist das Paradoxe an der ganzen Situation, dass diese befestigten Grenzen trotz der Globalisierung in einem unendlichen Maße zugenommen haben. 1945 gab es 20 solcher Grenzen – jetzt gibt es 70.

UH: Warum sieht Steffen Mau diesen Mauerbau, der überall zu beobachten ist, als Teil der Globalisierung?

PM: Weil in dem Maße, in dem die Menschen mobil werden, wo Millionen Menschen sich täglich bewegen, auch das Bedürfnis der Staaten wächst, sich abzuschotten. Dazu gibt es zum einen die befestigten Grenzen, so wie wir das zwischen Polen und Belarus noch erleben. Zum anderen aber gibt es ganz neue Modelle von Grenzen, und die nennt Steffen Mau smart borders: Die Nutzung von Datenbanken, von geometrischen Identifikationen, sensorische Erfassung, tracking und tracing-Verfahren. Insofern wird der Begriff der Grenze auch zunehmend obsolet: Man kann schon vor der Grenze diese Sortierfunktion anwenden – als Staat. Und darüber hinaus ist das nicht nur ein Instrument der Staaten, sondern funktioniert auch zwischen den Staaten. Es ist also ein internationales Werkzeug, was den klassischen Begriff der Grenze – wir gehen ja immer davon aus, eine Grenze ist ein Schlagbaum und ein Grenzwärterhäuschen – dieser Begriff der Grenze wird aufgeweicht. Und das finde ich das Erkenntniserweiternde an diesem Buch von Steffen Mau.

UH: Also neue Grenzen überall, neue technische Möglichkeiten. Und weil das alles noch nicht reicht, versucht die EU ja mittlerweile, die Flüchtlinge auf dem Weg schon aufzuhalten, also bevor sie überhaupt eine von unseren Grenzen erreichen. Da gibt es Abkommen mit afrikanischen Staaten, – das spielt ja bei Steffen Mau auch eine Rolle?

PM: Das nennt er „Exterritorialisierung“ von Grenzen. Und das ist das eigetlich Spannende: Durch diese Exterritorialisierung wird die Grenze überhaupt in Frage gestellt als eine Linie, die einen Staat umgibt. Sondern diese Grenzen werden in die Herkunftsländer der Migranten hineinverlegt, indem mit diesen Ländern Abkommen getroffen werden, wodurch schon vorher in diesen Ländern eine Selektion stattfindet, ein Zurückhalten der Flüchtlinge. Und das ist ein sehr problematisches Verfahren, weil es die Souveränität dieser Herkunftsländer unterminiert.

UH: Wenn wir über diese Dinge reden, tun wir das ja immer mit so einem Beigeschmack: Das ist alles nicht richtig. Wie macht Steffen Mau das? Hat er ein moralisches Urteil, wenn er über diese Dinge schreibt?

PM: Überhaupt nicht. Also das muss der Leser dann für sich selbst entscheiden. Steffen Mau, – und das ist das tolle an einem kurzen Essay, arbeitet auf einer rein empirischen Basis. Und zwar hat er eigene Forschungen, eigene und fremde Erhebungen. Also da Urteil über das, was da passiert, das überlässt er dem Leser.

WDR 3 Gutenbergs Welt 18. Dezember 2021