Der Sound von Weimar

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Laut einer gerade veröffentlichten Studie der Heinrich-Böll-Stiftung und der NRW School of Governance berichten fast 41 Prozent von 2166 befragten Mandatsträgern in 80 deutschen Großstädten von Beleidigungen, Bedrohungen und tätlichen Übergriffen von Gegnern ihrer und der Politik überhaupt. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Kommunalpolitikerinnen und – Politiker. Diese Politiker wurden nicht nur per E-Mail oder Telefon angepöbelt, sondern in direkten Begegnungen an Partei- und Infoständen tätlich bedrängt und bedroht. – In Sachsen gaben gar über 80 Prozent der befragten Politiker an, beleidigt und belästigt worden zu sein. Es ist also nicht von ungefähr, dass Bundpräsident Steinmeier dort seine Reise beginnt, während der er die Bürger dazu anhalten will, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.

Dass man die Weimarer nicht mit der zweiten deutschen, der Bundesrepublik, vergleichen dürfe, gehört zum Credo der meisten Historiker: Viel zu verschieden seien die ökonomischen und politischen Verhältnisse damals gewesen, um Parallelen ziehen, um heute von „Weimarer Verhältnissen“ sprechen zu können. Vor allem sei die Demokratie in der heutigen Bundesrepublik ungleich gefestigter als in den Jahren zwischen 1919 und 1933.

Angesichts der gegen die sogenannten „Reichsbürger“ durchgeführten Razzien können da Zweifel aufkommen. Einmal natürlich wegen der Tatsache, dass es so etwas wie die „Reichsbürger“ und ihre gewaltsamen Umsturz-Pläne überhaupt gibt. Und die „Reichsbürger“ nur die Spitze eines demokratiefeindlichen Eisberges sind. Dann aber auch, weil diese Razzia offenbar schon Tage vorher durchgestochen wurde und einige der Betroffenen gewarnt werden konnten. Es also wohl mehr Sympathisanten in entscheidenden Funktionen gibt, als man glauben möchte. – Wie wehrhaft ist unsere Demokratie wirklich?

Dass hierzulande eine prinzipielle Einigkeit darüber besteht, sie sowohl mit politischen wie mit strafrechtlichen Mitteln gegen ihre Feinde zu verteidigen, darüber bestehen überhaupt keine Zweifel. Es stellt sich allerdings die Frage, wie lange das noch der Fall sein wird. Wie lange es noch politisch verantwortliche Menschen geben wird, die es sich antun wollen, rassistischen, rechtsradikalen Pöbeleien die Stirn zu bieten. Gemeint sind die an der Basis der Demokratie arbeitenden Kommunalpolitiker. Sie vor allem sind Opfer eines immer gewaltsameren Pöbels.

Zwar sagen nur gerade fünf Prozent der auf der Straße angeschrienen, bespuckten und mit Prügeln bedrohten Kommunalpolitiker, dass sie ihren Beruf aufgeben wollen. Die meisten anderen kämpfen also tapfer weiter für die Demokratie. Doch ein Drittel der befragten Mandatsträger gibt an, sich seltener zu kontroversen Themen zu äußern, bestimmte Orte oder Veranstaltungen zu meiden, sich also „präventiv zurückhaltender“ zu verhalten. – Was im schlechtesten Fall heißen würde: Vor den Demokratiefeinden zurückzuweichen.

„Sprache ist eine Waffe“, wusste Kurt Tucholsky, der die „Weimarer Verhältnisse“ hautnah kannte: Dass auf Worte also Taten folgen. Dass aus der Hate-Speech in den sozialen Medien ein Gewaltpotential wächst, das am Ende auch vorm Morden nicht mehr Halt macht. – Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es gibt so etwas wie Kontinuitätslinien von Weimar zu heute. Und die sind ganz besonders im vergifteten politischen Sprachgebrauch zu finden, mit dem jede demokratiefeindliche Gewalt beginnt.

WDR 3 Mosaik 12. Dezember 2022