Sylvie Schenk, Maman

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Sylvie Schenk, Maman. Roman. Hanser 2023. 176 Seiten. 22 Euro

Die Deutsch schreibende französische Autorin Sylvie Schenk versucht in ihrem Roman „Maman“ dem Geheimnis ihrer Mutter auf die Spur zu kommen: Warum war diese Frau für ihre fünf Kinder so unnahbar, warum konnte sie nie zärtlich zu ihnen sein? Statt einer Anklage wird aus dieser Frage das ergreifende Porträt einer selbst nie geliebten Frau.

Eine Frau, Cecile, stirbt bei der Geburt ihrer unehelichen Tochter. Es ist das Jahr 1916. Mitten im Krieg. Das Krankenhaus in Lyon überfüllt mit Kriegsverwundeten. Die Nonnen haben nicht viel Zeit, sich um die Mutter zu kümmern. Doch das Kind, ein Mädchen, überlebt. Später wird es Renée heißen. Es kommt ins Waisenhaus und wird bald einem armen Bauern-Ehepaar in der Ardèche zur Pflege übergeben. Sie brauchen eigentlich nur das Pflege-Geld. Das Kind ist ihnen lästig. So behandeln sie es auch. – Sylvie Schenk spannt die Geschichte ihrer Mutter weit. Allein sechs Abschnitte widmet sie dem Sterben von Cecile, ihrer Großmutter, der Mutter von Renée.

Die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter, die Textilarbeiterinnen und Wäscherinnen, sind zu einem weißen Elefanten unserer Fantasie geworden, ein Tier, das uns immer noch weiter in ausgefranste Gebiete zieht.

Sylvie Schenk unternimmt es, diesen Weißen Elefanten ihrer Familie zu entschlüsseln. Zumindest will sie verstehen, wer ihre Mutter, Renée war. Denn diese Mutter von vier Töchtern und einem Sohn hat ihr Leben lang nur das Allernotwendigste gesprochen. Hat sich ihren Kindern nie mitgeteilt, war in sich gekehrt und abweisend bis zu einem Grad, das an Dumpfheit grenzt. – Warum sie so geworden ist, versucht die Autorin zunächst durch die Rekonstruktion ihrer Biografie zu ergründen: Im Alter von zehn wird Renée von dem sie missachtenden und vielleicht auch misshandelnden Bauernehepaar erlöst. Marguerite und ihr Mann, ein wohlhabendes Ehepaar, adoptieren sie. Ihre neue Adoptivmutter kümmert sich liebevoll um das Kind und versucht, es an die Kultur heranzuführen. Doch Renée bleibt unzugänglich, störrisch und zeigt überdies wenig Talent. Mit zwanzig heiratet sie einen Zahnarzt. Eine Vernunftehe. Obwohl die Zukunft der künftigen Familie materiell gesichert ist, bleibt Renée verschlossen, unnahbar für ihre Kinder. Sie spielt und singt nicht mit ihnen, erzählt ihnen keine Geschichten.

Ich könnte verzweifeln, wenn ich merke, dass ich ihr nur negative Eigenschaften anhängen kann, sonst sehe ich sie als Nichts, eine leere Blase. Es kommt mir vor, als habe sie zwar leibhaftig gelebt, aber nur als angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht.

Sylvie Schenk vermeidet es, diese psychoanalytische Deutung zu vertiefen und den Charakter ihrer Mutter allein bestimmt durch ihre uneheliche Geburt und das grausame frühkindliche Erleben zu deuten. Vielmehr versucht sie, sich in die Frau, die ihre Mutter war, hineinzuversetzen: Auf der Spur der wenigen Äußerungen, an die sie sich erinnern kann, empfindet sie nach, was in ihr vorgegangen sein, wie sie ihre Kinder und ihren Mann erlebt haben mag. 

Und ob sie sich wirklich so klaglos mit der Opferrolle, in der die Tochter sie sieht, abgefunden hat, zeitlebens hart und unzugänglich geblieben ist. – Im Gespräch mit ihrer jüngsten Schwester Lisa findet sie heraus, dass das nicht ganz so war.

Die steife, gleichgültige Mutter war beim jüngsten Kind weicher geworden, hatte mit Ende vierzig wieder Freude verspürt, es gab warme Gefühle zwischen ihr und dem Kind.

So wird am Ende doch alles irgendwie gut, die harten Falten und Brüche im Bild der Mutter glätten sich. Das auch, weil ihr die Autorin zwischendurch noch eine Seitensprunggeschichte andichtet, um ihr wenigstens ein bisschen Autonomie zurückzugeben. – So mündet Sylvie Schenks Versuch, sich ein von Sentimentalitäten unverstelltes Bild ihrer Mutter zu machen, am Schluss in einen wohlgerundeten Roman.

WDR 3 Kultur am Mittag