Arbeitszeiterfassung und die Zukunft der Arbeit

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Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die EU-Mitgliedsstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives System einzurichten, mit dem die von Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Im September 2022 folgte das Bundesarbeitsgericht mit der Entscheidung um, dass Arbeitgeber sämtliche Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten erfassen müssen. Das setzt jetzt das Bundesarbeitsministerium in einem Gesetzesentwurf um und begründet das damit, dass die Arbeitszeiten immer flexibler geworden seien und deshalb der Erfassung und Kontrolle der geleisteten Arbeitszeiten eine besondere Bedeutung zukomme. – Die Arbeitnehmervertreter begrüßen das Vorhaben, – ob es aber tatsächlich das zunehmende Hereinwachsen der Arbeit in die Freizeit stoppen kann, ist fraglich angesichts der Zukunft der Arbeit.

„Mein wirkliches Leben beginnt erst nach Feierabend. Wenn ich nicht arbeiten müsste, würde ich gleich morgen aufhören.“ Das sagen einer aktuellen Studie zufolge mehr als die Hälfte der Arbeitenden. Und das ausgerechnet im Kernland der protestantischen Arbeitsethik, in dessen Poesiealbum Martin Luther den schönen Satz schrieb: „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen“. Und in dem selbst Utopisten wie Ernst Bloch meinten, dass der Mensch erst durch Arbeit zum Menschen wird. – Da fragt sich natürlich, an welche Arbeit er dabei dachte. An die der Paketzusteller oder der Leute in Callcentern, Großraumbüros, Montagehallen und Putzkolonnen wahrscheinlich eher nicht.

Aber nicht nur in unterbezahlten, „prekären“ Jobs wird Arbeit sehr häufig als krank machende, nämlich überfordernde Zumutung empfunden: Dreiviertel, aller Arbeitenden zwischen 30 und 40 Jahren klagt über Erschöpfung am Arbeitsplatz, verursacht vor allem durch Leistungs- und Zeitdruck. Der wiederum entsteht, wenn mit einer viel zu dünnen Personaldecke gearbeitet wird und weil die realen Arbeitszeiten länger als die tariflich vereinbarten sind. Genau das war der Grund für den Europäischen Gerichtshof und das Bundesarbeitsgericht, eine gesetzliche Regelung für die Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten zu fordern.

Aus den schönen Zukunftsträumen des jungen Marx, ein Leben ohne Lohnarbeit zu führen, – „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe“ – ist nichts geworden. Und auch nichts aus der Prophezeiung des Ökonomen Jeremy Rifkin vom „Ende der Arbeit“ – durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz.

Tatsächlich kann von einem solche Ende der Arbeit – leider – überhaupt nicht die Rede sei. Jeder neue Technologieschub hat bisher zu gesteigerter Komplexität geführt. Die fortschreitende Automatisierung lässt den Bedarf einerseits nach hoch qualifizierter technischer Expertise, andererseits nach gering qualifizierter Wartung und Betreuung wachsen. Gleichzeitig haben sich alle Modelle einer Work-Life-Balance, also eines harmonischen Gleichgewichts von Arbeit und Leben, als Illusion herausgestellt. Tatsächlich scheint es so, dass mit steigender Komplexität die Arbeit die Menschen „auffrisst“ mit den bekannten Folgen des „Burnouts“, der „inneren Kündigung“ und im schlimmsten Fall der „Arbeitssucht“.

Die geplante Arbeitszeiterfassung kann dazu dienen, die Ausdehnung der Arbeitszeit einzudämmen. Doch da sich Arbeit zunehmend von der Präsenz an einem festen Arbeitsplatz löst und in die „Freizeit“ wandert, sind der Kontrolle Grenzen gesetzt. Und wenn selbst die Freizeit an sich zur Arbeit wird – wie viele Stunden braucht man, um den billigsten Flug zu buchen? – fragt sich, ob nicht das ganze moderne Leben aus Arbeit besteht. Der Begriff der Muße jedenfalls ist aus dem allgemeinen Wortschatz weitgehend verschwunden.

WDR 3 Mosaik 21. April 2023