Karl Schlögel, American Matrix. Besichtigung einer Epoche

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Karl Schlögel, American Matrix. Besichtigung einer Epoche. Hanser Verlag 2023. 832 Seiten. 45 Euro

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/american-matrix/978-3-446-27839-4/

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-gutenbergs-welt/amerika-100.html

Ein Gespräch mit Christian Möller

Der Historiker Karl Schlögel, Jahrgang 1948, ist einer breiten Öffentlich als ein Experte für Osteuropa, vor allem als ein Kenner Russlands, bekannt. Wie kommt er dazu, jetzt ein umfangreiches Werk über die Geschichte der USA vorzulegen?

Das ist relativ leicht beantwortet und steht auch im Vorwort des Buches: Wohl die meisten links sozialisierten Leute in den 1960er und 1970er Jahren waren wie er Anhänger der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Schlögel hat aus diesem Grund die USA ab 1970 ausführlich bereist, etwa um dort die Black Panthers oder Angela Davis zu treffen. Und auch sonst hat er als Historiker und auf Einladung von Universitäten immer wieder die USA besucht und sich stark für die Geschichte des Landes interessiert. Das sah er nicht als Widerspruch zu seinem Interesse für die Sowjetunion an, die er schon vorher, in den 60er Jahren bereist hat. – Denn was ihm damals bei seinen Reisen schon auffiel, waren etliche Parallelen in der Geschichte der beiden Länder im 20. Jahrhundert, vor allem Entwicklungen in den 1930er Jahren.

Allenfalls bekannt ist ja, dass der Moskauer Palast der Sowjets, das damals höchste Gebäude der Welt, nach dem Vorbild des Empire State Building gebaut worden sein soll. Stimmt das und was sind die Hintergründe?

In der jungen Sowjetunion, vor allem während der Zeit des Ersten Fünfjahresplans (1927-1932) gab es ein sehr starkes Interesse an den USA, ja sogar eine regelrechte Begeisterung: Man sah in ihnen ein Vorbild, wie man durch technischen Fortschritt ein so großes Land aufbauen kann. Am bekanntesten ist die Reportage zweier Schriftsteller – Ilja Ilf und Jewgeni Petrow -, die monatelang kreuz und quer – mit einem Auto! – durch die 1935 USA fuhren und sich dort alles, nämlich die für sie amerika-typischsten Orte (Chicago, Hoover-Damm, die Kleinstadt Gallup, Los Angeles) anschauten. Anschließend veröffentlichten sie ein Buch, das, verblüffender Weise in den Hochzeiten der Stalin-Diktatur, als ein Lobpreis Amerikas gelesen werden kann. Der Hintergrund ist die sowjetische Amerika-Begeisterung in den 1930er Jahren, die sich in der Herstellung der diplomatischen Beziehungen 1933 politisch manifestierte: Die Sowjets nahmen sich die fortgeschrittene Technologie der USA zum Vorbild, es gab einen regelrechten „Sovjet Americanism“. Tausende von Ingenieuren wurden von den UdSSR in die USA geschickt, um sich dort umzuschauen. – Und umgekehrt wurden Amerikaner eingeladen, in der UdSSR zu arbeiten: Das Architekturbüro, das in den USA die Ford-Werke baute, errichtete sage und schreibe 600 Fabrikanlagen in der UdSSR! – Ganz besonderes Interesse bestand in der UdSSR für die Ideen Taylors und Henry Fords, also dafür, wie man die Arbeit rationeller organisieren kann. Und die amerikanische Stahlindustrie-Stadt Gary (die heute noch mehr heruntergekommen ist als Detroit) zog junge Sowjets an, – nach ihrem Vorbild wurde die Stadt Magnitogorsk jenseits des Urals gebaut, die größte Stahl- und später Waffenschmiede der UdSSR

Was hat es mit dem Titel des Buches, American Matrix, auf sich? Was versteht Schlögel unter Matrix?

Er versteht darunter das geometrisch angelegte Netz, das Gittersystem, das über der gesamten Landmasse der USA liegt und die Landschaft prägt. Das heißt, wenn man über die USA fliegt, kann man dieses Netz sehen und an den geraden und rechtwinkligen Linien, die sie durchziehen erkennen, dass die Landschaft nach menschlichen Maßstäben geformt wurde. Das ist das Ergebnis der mit der Landnahme verbundenen Vermessung und der darauffolgenden Kolonisierung des Kontinents. Das heißt, seine Verwandlung in Grundeigentum und dann der Verwandlung von Eigentum in eine Bürgergesellschaft. – Das Problem für die 13 Gründerstaaten der USA war ja die Besiedlung der riesigen, in ihren Augen menschenleeren Fläche westlich von ihnen bis zum Pazifik. Mit der bereits 1787 beschlossenen Northwest Ordinance wurde das gesamte Land zum Eigentum des Staates erklärt und zum Verkauf an Privateigentümer freigegeben. Das Land also in Privatbesitz verwandelt, in eine Ware. Dazu musste es erst vermessen werden, das war ein riesiges Projekt, dessen Methode der spätere Präsident Thomas Jefferson entwickelt hatte: Die Landvermesser sollten das Gebiet in Townships aufteilen, und zwar durch Linien, die genau von Norden nach Süden verlaufen. Die sechsunddreißig Quadratmeilen großen Townships sollten in Parzellen von je einer Quadratmeile (lots) unterteilt werden, von denen vier der Regierung für den Unterhalt von Schulen etc. vorbehalten waren. Die so entstehenden Territorien sollten nicht zu groß, aber auch nicht zu klein sein, kompakt und überschaubar, um den Bürger die Mitwirkung an öffentlichen Angelegenheiten zu ermöglichen. – Zitat Schlögel: „Vielleicht sollte zum ersten Mal in der Geschichte eine Gesellschaft geschaffen werden, in der der Grundbesitz horizontal und nicht vertikal verteilt ist. Eine Gegenfigur zur feudalen Grundherrschaft in der Alten Welt – und auch zu der der Plantagenbesitzer des amerikanischen Südens. Wenn Jeffersons Hypothese richtig war, musste die daraus entstandene Gesellschaftsstruktur demokratisch sein.“

Welche Rolle spielt bei Schlögel, dass dieses Projekt ganz unmittelbar mit Gewalt verbunden war, ja darauf beruhte, nämlich auf der Vertreibung bzw. Ausrottung der Ureinwohner?

Das lässt Schlögel natürlich nicht unerwähnt, er hängt das Thema aber nicht groß im Sinne einer „postkolonialistischen“ Argumentation auf. Er widmet dem Genozid an den Ureinwohnern (ohne diesen Begriff zu benutzen) ein ganzes Kapitel, beschäftigt sich also ausführlich damit bis in die jetzige Zeit hinein, weist aber auch darauf hin, dass den allermeisten Amerikanern überhaupt nicht bewusst ist, dass ihre Nationbuilding auf Gewalt beruht. – Was in dem Zusammenhang aber bedauerlicherweise bei ihm keine Rolle spielt, ist, wieviel Gewalt bei der „Zivilisierung“ des Westens sonst noch im Spiel war, dass sich hier weitgehend das Recht des Stärkeren durchsetze. (Ein Thema übrigens, das John Ford 1962 in „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ wunderbar darstellte.) Ebenso wenig interessiert sich Schlögel dafür, wie diese Gewalt sich bis in die heutigen USA fortsetzt, nämlich in Gestalt des uferlosen Waffenbesitzes und massenhaften Waffengebrauchs: Dabei gehört Gewalt m.E. nach ebenso wie die Religion zu den Grundpfeilern des amerikanischen Selbstverständnisses der USA. Beides findet bei Schlögel keine Erwähnung.

Schaut man aufs Inhaltsverzeichnis des Buches, scheint sich die Darstellung entlang der „American Matrix“ zu entfalten, folgt als in vielen Punkten der Geografie des Landes bzw. der technischen Bewältigung der Landnahme.

Es liegt ja auf der Hand, dass das „Wesen“, das ganz Eigentümliche der USA, ganz eng mit der Erschließung des Landes verbunden ist, sich um den Mythos des „Frontier“, der Westverschiebung der „Zivilisation“ dreht. Deshalb geht es in den großen Kapiteln von Schlögels Buch natürlich zum einen um die Eisenbahn: Die ist ja schon ein Mythos an sich, nicht nur die Erschließung der gesamten Landmasse durch sie, sondern auch das luxuriöse Reisen – Stichwort Pullman-Wagen – bis in die 20er, 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Danach gibt es nur noch Niedergang und Ablösung durch das Auto und ein neues Verkehrsnetz, die Highways. Schlögels Kapitel über die Stadt Los Angeles ist über weite Strecken ein Hymnus auf das extrem ausgeklügelte Highway System und auch den Brücken, den monumentalen Stahlkonstruktionen wie z.B. der Brooklyn Bridge, schenkt er seine ganze Aufmerksamkeit und auch Bewunderung: Das komplette Verkehrssystem ist für ihn bewundernswert und das, was die USA eigentlich zu einer Nation macht.

Also eine für einen Historiker reichlich enthusiastische Darstellungsweise…

Auf jeden Fall kann Schlögel sehr anschaulich und auch emphatisch schreiben. Das liegt vor allem daran, dass er sich beispielsweise den für ihn so wichtigen Verkehrsnetzen nicht nur als Historiker nähert, also deren Entwicklungen sachlich darstellt, sondern dass er immer wieder dabei die Perspektive der Reisenden einnimmt, von Alexis de Toqueville angefangen: Mehrfach kommt er zum Beispiel auch auf die Amerika-Reise Max Webers und seiner Frau im Jahr 1904 zu sprechen, widmet ihr sogar ein eigenes Kapitel. Das verschafft insofern interessante Einblicke, als er versucht, mit den Augen des Zeitgenossen zu schauen, denn das Amerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ja völlig anders als das von heute. – In seinen eigenen Erlebnissen als Student in den 1970er nimmt er die USA übrigens aus der Greyhound-Perspektive wahr. Deshalb widmet er diesem mythischen amerikanischen Überland-Bus, der heute nur noch für die Armen und für wenig begütertere Touristen eine Rolle spielt, auch ein eigenes Kapitel.

Gibt es denn außer den an die „Matrix“ gebundenen Bereichen noch andere Themen in der Geschichte der USA, die für Schlögel bedeutsam sind?

Recht ausführlich beschäftigt er sich mit mehreren Komplexen, in denen er sozusagen den Kern des US-amerikanischen Selbstverständnisses sieht, aber auch das, was die ausländischen Besucher als „typisch amerikanisch“ bezeichnen würden, was gleichzeitig auch uramerikanische Mythen sind: Angefangen mit den riesigen Stadien, in denen die amerikanischen Meisterschaften – sowohl Football wie Baseball – als nationale Feiertage begangen werden. Zum anderen die „Malls“, die ebenfalls riesigen Einkaufszentren, außerdem natürlich auch die Motels und nicht zuletzt die „American Manners“, die freundlichen Umgangsformen, die aber letztendlich dazu da sind, eine höfliche Distanz zu schaffen.

Schlögels Darstellung der USA im 20. Jahrhundert scheint ja allumfassend zu sein. Gibt es trotzdem etwas, das fehlt?

Was fehlt, ist eindeutig das Rassenproblem. Schlögel klammert es zwar nicht ganz aus, setzt sich damit aber in nur einem einzigen Kapitel weitgehend akademisch auseinander. Enthusiastisch beginnt er zwar mit der Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther Kings Rede auf dem Lincoln Memorial vom 28. August 1963. Aber dann beschäftigt er sich ausführlich nur mit eher theoretischen Problemen, – der Verfassung der USA etwa, die den Schwarzen erst durch die beiden Amendments von 1863 und 1870 zu ein bisschen Gleichberechtigung verhalf. Mit der widersprüchlichen Person Thomas Jeffersons, der tatsächlich ein echter Rassist war und in der der ganze Rassismus der USA gründet. Aber mit der Geschichte dieses Rassismus im 20. Jahrhundert setzt er sich überhaupt nicht auseinander: Der Name Ku-Klux-Klan fällt kein einziges Mal, geschweige werden die massiven Rassenunruhen von den 1960er Jahren an thematisiert. – So erscheint das ganze Buch insgesamt ein bisschen zu harmlos, d.h. die mit den USA des 20. Jahrhunderts verbundenen Probleme werden entweder ausgeklammert oder beschönigt. Da sind zum einen die zu wenig behandelten Probleme des Rassismus und der Gewalt. Überhaupt keine Rolle spielt bei Schlögel die Religion, ohne deren massive Bedeutung man glaube ich die USA gar nicht begreifen kann. Und was ebenfalls ganz bei ihm fehlt, ist das neben anderem auch der Religion zusammenhängende Sendungsbewusstsein der Amerikaner, ihr ungebrochener Glaube daran, für alle Welt ein Vorbild zu sein. Über die daraus abgeleiteten imperialistischen Missionen der USA – vom Vietnamkrieg über Panama, Chile usw. fällt bei Schlögel kein Wort. – Ich glaube, das könnte damit zusammenhängen, dass sein Amerikabild zu sehr durch seine Jugenderlebnisse, seine Reisen als Student geprägt ist.  – Nimmt man das in Kauf, ist sein Buch eine schöne bunte, oft sehr lehrreiche Einführung in die USA, allerdings eher für Leute, die ohnehin schon US-Fans sind und die nichts über die dunklen Seiten des Landes wissen möchten.

WDR3 Gutenbergs Welt 7. Oktober 2023