Die Antiquiertheit des Nobelpreises

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Besitzt eine Show erst einmal Kultstatus, perlt aller Zweifel an ihr ab wie der Regen am Friesennerz. Das gilt für „Wetten das?“ ebenso wie für die Oscarverleihung oder den European Song Contest. Man kann sich davon einfach nicht losreißen. Obwohl man bei letztem definitiv weiß, dass man ihn nur des Fremdschämens wegen guckt. Was solche Events mit dem würdevollen Friedensnobelpreis gemein haben, ist die kollektive Erregung, die sie zu erzeugen vermögen. Diese magische Eigenschaft verdanken sie dem Umstand, dass es sich bei ihnen jeweils um eine Leistungsschau handelt. Es sind Veranstaltungen, bei denen hervorragende individuelle Leistungen gemessen und dann mit pompösem Theater prämiert werden.

Ohne dass die Besten gegeneinander antreten und dem Allerbesten am Ende der Pokal zusteht und zeremoniell überreicht wird, funktionieren auch moderne Gesellschaften nicht. Was diese aber von vormodernen Gesellschaften und auch von der des 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist, dass sie ohne Helden auskommen. Der Verzicht auf das Göttergleich-Heroische ist die Einsicht darin, dass die Einzelnen in einer Hochleistungsgesellschaft mit zu hohen Ansprüchen an sich selbst überfordert sind. „Das erschöpfte Selbst“ lautete um die Jahrtausendwende die Diagnose des französischen Soziologen Alain Ehrenberg: Die übersteigerten und letztlich unerfüllbaren Erwartungen an Erfolg und Befriedung zermürben die Individuen und machen sie krank. Die heroische Konzeption des bürgerlichen Individuums ist gescheitert.

Das hat zwar die moderne Literatur sehr früh schon registriert und den klassischen Helden ins Triviale oder den Krimi verbannt. Uns Alltagsmenschen aber fällt der Verzicht aufs Heroenspielen viel zu schwer. Und um das zu kompensieren, gibt es solche Institutionen wie „Wetten das?“, den Oscar, den ESC und eben auch den Nobelpreis. In ihnen lebt die Sehnsucht nach dem Helden fort und wird zeremoniell so perfekt kultiviert, dass wir uns mühelos mit den dort Gefeierten identifizieren können ohne uns selbst anstrengen zu müssen.

Wie sehr der Nobelpreis aber noch dem Geist des 19. Jahrhunderts und seinem Kult des heroischen Individuums und des Genies verpflichtet ist, zeigt sich an der Vergabe der Preise für Naturwissenschaften. Da werden Einzelne – und meist sind das Männer – für Leistungen geehrt, die heutzutage das Ergebnis der Forschung vieler tausend anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind. – Umso erfreulicher, dass das Komitee dann doch über seinen 120-jährigen Schatten sprang und der iranischen Frauenrechtlerin Narges Mohammadi den Friedensnobelpreis zuerkannte – in Anerkennung für eine ganze Bewegung in ihrem geknechteten Land.

WDR3 9. Oktober 2023