Uwe Wittstock, Marseille 1940

Veröffentlicht in: Allgemein, Rezensionen | 0

Uwe Wittstock, Marseille. Die große Flucht der Literatur. Verlag C.H.Beck. 351 Seiten. 26 Euro.

https://www.chbeck.de/wittstock-marseille-1940/product/36359417

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/lesefruechte/wittstock-marseille-neunzehnhundertvierzig-100.html

Wer Anna Seghers berühmte Romane „Das siebte Kreuz“ und „Transit“ gelesen hat, weiß auch, um was es in diesem Buch Uwe Wittstocks geht: Um die abenteuerliche Flucht vor den Nazis durch das zum Teil schon von ihnen besetzte Frankreich. „Das siebte Kreuz“ spielt in Wittstocks Darstellung sogar eine eigene Rolle: Auf ihrer Flucht mit ihren beiden Kindern von Paris in den Süden Frankreichs schleppte Anna Seghers das Manuskript dieses Romans mit sich. Es war die letzte von nur sieben Kopien, – von den übrigen sechs konnte sie nicht sicher wissen, ob sie den Krieg überstehen würden. Und in „Transit“ schließlich schildert sie, was auch den übrigen Protagonisten Wittstocks am Ziel ihrer Flucht, in Marseille, bevorsteht: Das endlose, zermürbende Warten auf die Papiere, mit denen man an ein Visum und eine Schiffspassage kommen konnte.

Am 14. Mai 1940, einen Tag, nachdem deutsche Panzer die französischen Abwehrstellungen bei Sedan durchbrochen haben und nun nach Paris vorpreschen, sitzt Lion Feuchtwanger im südfranzösischen Sanary-sur-Mer vorm Radio. Wie Heinrich Mann, Annette Kolb und etliche andere fühlte er sich hier seit seinem Exil 1933 vor den Nazis sicher. Doch die Bekanntmachung des Radiosprechers lässt ihn hochschrecken: 

Alle in Paris und Umgebung lebenden Deutschen und Österreicher müssen sich an bestimmten Sammelpunkten einfinden, um in Internierungslager transportiert zu werden. Die französische Regierung sieht in ihnen potentielle Sympathisanten der Nazis.

Für Tausende von deutschen Intellektuellen und Schriftstellern, die keineswegs Sympathisanten, sondern im Gegenteil vor den Nazis aus Deutschland nach Frankreich geflohen sind, beginnt ein Albtraum. In Paris müssen sich unter vielen anderen Hannah Arendt, Walter Mehring, Anna Seghers und Walter Benjamin auf den beschwerlichen Weg nach Süden machen, in den nicht von Deutschen besetzten Teil Frankreichs. Einen Monat später vegetieren die meisten von ihnen in französischen Internierungslagern. Im Lager ‚Les Milles‘ warten der inzwischen ebenfalls internierte Lion Feuchtwanger neben Golo Mann und dem Dramatiker Walter Hasenclever darauf, mit den 2.000 anderen Lagerinsassen in einem Zug abtransportiert zu werden. Als der am 22. Juni 1940 mit unbekanntem Ziel losfährt, bleibt der 49-jährige Hasenclever zurück. Er hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen.

Seine Dramen beherrschten nach dem Ersten Weltkrieg die deutschen Bühnen, seine Komödien wurden in den besten Theatern Europas gespielt. Er stirbt am gleichen Tag und wird in Aix-en-Provence in einem Sammelgrab beigesetzt. „Die Katastrophe rückt näher“, hat er zwei Tage zuvor an seine Frau Edith geschrieben, „heute oder morgen kann das Ende da sein. Ich will freiwillig den letzten Schritt tun.“

Hasenclever war nicht der einzige, der diese Konsequenz zog. Walter Benjamin und Ernst Weiß sind nur die prominentesten der vielen anderen Suizid-Opfer auf der dramatischen Flucht. Ziel der meisten Flüchtlinge ist Marseille. – Deshalb steht Marseille auch im Mittelpunkt des umfassenden, sich auf Dutzende Biografien deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller stützenden Berichts Uwe Wittstocks über die „große Flucht der Literatur“. Denn in Marseille gibt es Botschaften, die Transitvisa nach Portugal ausstellen. Nur noch von dort nämlich kann man mit dem Schiff nach Übersee fliehen. Und: Es gibt in Marseille eine Hilfsorganisation namens „Emergency Rescue Committee“ ERC, die den Flüchtlingen bei der Beschaffung der notwendigen Papiere hilft. Die wichtigste Aufgabe aber sieht das vom jungen Amerikaner Varian Fry geleitete ERC darin, den Flüchtigen beim illegalen Grenzübertritt aus Frankreich zu helfen.

Im Grunde ist der Weg nach Portbou nicht weit, nur rund acht Kilometer. Varian Fry kann die kleine Gruppe, die sich langsam an den Aufstieg macht, vom Bahnhof aus noch eine Weile beobachten. Vorn geht Franz Werfel, dahinter folgt mit rasch wachsendem Abstand Heinrich Mann, er geht unsicher und gebeugt. Nelly und Golo bemühen sich um ihn. Je höher sie kommen, desto kahler wird die Landschaft – bis Fry sie schließlich aus den Augen verliert.

Uwe Wittstock hat mit seiner Komposition aus aberhunderten von Quellen und Selbstzeugnissen der „großen Flucht“ der deutschen Schriftsteller, ganz besonders aber auch der Arbeit von Varian Frys Hilfsorganisation, ein literarisch beeindruckendes Denkmal gesetzt.

WDR5 Bücher, 17. und 18. Februar 2024