Evangelische Kirche und Antisemitismus

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Günter Brakelmann, Politischer Antisemitismus 1869-1945 und die Evangelische Kirche. Verlag Hartmut Spenner. 388 Seiten. 29,80 Euro

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Der 1931 geborene evangelische Theologe, Soziologe und Hochschullehrer Günter Brakelmann hat sich ein Leben lang kritisch mit der Rolle der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Von 1972 an bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum. Bisher galt sein Forscherinteresse vor allem der Geschichte der Kirche in seiner Heimatstadt Bochum sowie dem protestantischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der sich vor allem im sogenannten „Kreisauer Kreis“ versammelte. Jetzt hat er seine wissenschaftliche Neugier auf den in der Evangelischen Kirche seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten Antisemitismus gerichtet. – Aus gegebenem Anlass. Denn der neuerdings heftig aufflammende Antisemitismus muss seiner Ansicht nach historisch eingeordnet und deutlich etwa vom Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialistin unterschieden werden. 

Die Rasse ist ohne Zweifel ein wichtiges Moment in der Judenfrage. Die semitisch-punische Art ist auf allen Gebieten, sowohl der Arbeit wie des Gewerbes wie der Weltanschauung von der germanischen Sitte und Lebensauffassung so verschieden, dass eine Aussöhnung oder Verschmelzung unmöglich ist.

Ein Zitat des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker aus dem Jahr 1906. Dass der Theologe Stoecker sich nach 1870 als glühender Antisemit hervortat, ist für den Theologen Günter Brakelmann natürlich nichts Neues. Er hat sich sein Leben lang mit dem protestantischen Antisemitismus und der Rolle der Evangelischen Kirche im Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Doch brachte ihn der jetzt bei uns neu aufflammende Antisemitismus dazu, historisch noch einmal genauer zwischen den verschiedenen Spielarten des Antisemitismus zu unterscheiden.

(Brakelmann) Der Stoekersche Antisemitismus wirkte auflösend, zersetzend für eine moderne Gesellschaft. Gar keine Frage. Nur: Es ist kein Vernichtungsantisemitismus gewesen. Das ist eine Auffassung, die aus der Biologie kommt, aus der Naturwissenschaft.

Allerdings standen die allermeisten deutschen Protestanten den späteren radikalen Verfechtern und Vollstreckern dieses Vernichtungs-Antisemitismus, den Nationalsozialisten, positiv gegenüber. Schon vor der sogenannten Machtergreifung 1933, die sie mehrheitlich begrüßten. Aber auch noch danach.

In dieser für Volk und Vaterland entscheidenden Stunde grüßen wir unseren Führer. Wir danken für die mannhafte Tat und das klare Wort, die Deutschlands Ehre wahren.

… telegrafierte Pfarrer Martin Niemöller, nach 1918 rechtsradikales Freikorpsmitglied und seit 1924 NSDAP-Wähler, im Herbst 1933 an Hitler, nachdem der den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund verkündet hatte.

(Brakelmann) Der Mehrheitsprotestantismus hat eindeutig antidemokratische Tradition. Und diese antidemokratische Position kam Hitler sehr entgegen. Er wusste genau: Ich kann nur meine Wahlen gewinnen, wenn ich die Mehrheit der Protestanten habe. Dort, wo die Protestanten die Mehrheit hatten, hatte Hitler auch die Mehrheit. Das ist einfach Tatsache. Nur: Die Zustimmung zum Antisemitismus spielt 1933, in den Reden von Hitler und in der ganzen Öffentlichkeit so gut wie keine Rolle. Das setzt erst ein, als er die Macht fest hatte. Vorher hat er ja die Kirchen, die evangelische Kirche, hofiert. Und hat gesehen: Da habe ich so meine konservativen Leute, und die Konservativen, die kann ich auch gut gebrauchen für meine Strategie.

Martin Niemöller steht vielleicht exemplarisch für den aus dem 19. Jahrhundert überkommenen protestantischen Konservatismus und den damit eng verbundenen politischen Antisemitismus in Deutschland. Der entwickelte sich rasant in Opposition zur liberalen, die Juden von allen Einschränkungen befreienden staatlichen Gesetzgebung von 1869.

(Brakelmann) Dieser politische Antisemitismus organisierte sich jetzt als Partei! Das hatte es vorher noch nicht gegeben. Und die antijüdischen Parteien sind in der Öffentlichkeit sehr mobil, sehr aktiv. Denn zu den Antisemiten gehörten vor Ort in der Regel Pfarrer und vor allen Dingen Lehrer, Studienräte, Professoren usw. Und die entwickeln ein System gegen das Judentum.

Dann aber, als beim Pogrom von 1938 die auf die physische Vernichtung der Juden gerichtete Absicht der Nationalsozialisten immer offenkundiger wird, ändert Niemöller seine Haltung. Und mit ihm auch ein Teil der übrigen Protestanten, die sich in der sogenannten „Bekennenden Kirche“ organisieren.

(Brakelmann)38 hat es kein Wort der Kirche gegeben zu den Massakern. Aber: Es hat einzelne Pfarrer gegeben, und diese Unterscheidung zwischen dem, was die Kirche macht als Institution zu dem, was nun einzelne Christen machen, unter anderem auch Pfarrer machen, das muss ich auch wieder unterscheiden. Denn es zeigte sich dann ja im Laufe der Zeit, dass die deutschen Christen, die 1933 die Mehrheit gehabt haben, langsam aber sicher auf 39 hin die Mehrheit verlieren und die „Bekennende Kirche“ entscheidend wird.

Günter Brakelmanns Buch über die Rolle der Evangelischen Kirche im politischen Antisemitismus von 1869 bis 1945 ist eine hoch differenzierte und dennoch sehr lesenswerte historische Untersuchung. Darüber hinaus macht die große Menge der von ihm zitierten Dokumente sein Buch zu einem wertvollen Nachschlagewerk.

WDR3 Resonanzen 27. Mai 2024