Die Masern und das Kulturelle Kapital

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Dass Reiche länger leben als Arme, ist eine Binsenweisheit. Gesundheit ist auch hierzulande etwas, das man sich leisten können muss. Das trifft natürlich in besonderem Maße für die Gebildeten unter den Besserverdienenden zu. Wer über „kulturelles Kapital“ verfügt – so die Begriffsschöpfung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, weiß mehr als der Durchschnitt, lebt gesünder und entsprechend auch länger. Möchte man denken. Stimmt aber nicht so ganz. Denn diese Gesellschaftsschicht scheint in Bezug auf bestimmte epidemische Krankheiten weit risikobereiter als man vermuten möchte.

Dass es diese Krankheiten immer noch gibt, beziehungsweise, dass sie periodisch wiederkehren wie jetzt zum Beispiel die Masern, liegt auch daran, dass es keine staatliche Impfpflicht dagegen gibt. Stattdessen vertraut man auf eine freiwillige Impfung und Beratung. Und das wiederum liegt wesentlich am anhaltenden Widerstand der Impf-Skeptiker und Impfgegner. Die würde man, so wird befürchtet, durch die Impfpflicht „vor den Kopf stoßen“ und deren Widerstand provozieren.

Bemerkenswert ist nun, dass diese einflussreiche Lobby der Impfgegner sich hauptsächlich aus den Kreisen des „kulturellen Kapitals“ rekrutiert. Im Atlas der medizinischen Versorgung Deutschland zieht sich durch den Süden von Bayern und Baden-Württemberg eine zusammenhängende Region, die durch Impf-Skepsis und niedrige Impfraten hervorsticht. Eine Region mit überdurchschnittlich hohem Haushaltseinkommen und Bildungsstandard. Und in Berlin bildet ausgerechnet das hippe Szeneviertel Prenzlauer Berg das Schlusslicht in Sachen Impfquote. – Warum ausgerechnet die Wohlhabendsten und Gebildesten es vorziehen, sich selbst – und damit natürlich auch alle anderen – dem Risiko einer erhöhten Masern-Ansteckung auszusetzen, erscheint auf den ersten Blick paradox.

Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch, dass gerade an den Elternstammtischen der aufgeklärten Besserverdienenden die aufklärungs-feindlichsten Verschwörungstheorien grassieren: Immer noch wird das durch einen betrügerischen Impfkritiker in die Welt gesetzte Gerücht verbreitet, Masern-Impfstoffe führten zu Autismus. Und der auf Esoteriker wie Rudolf Steiner zurückgehende Aberglaube verbreitet, die Masern seien ein normaler „Entwicklungsschritt“ des Kindes, den man durch „Impfpartys“ befördern müsse.

Das alles hat kaum etwas mit der von Adorno und Horkheimer beschworenen Dialektik der Aufklärung zu tun. Sondern vielmehr mit der Borniertheit einer auf Selbstoptimierung getrimmten Schicht von Neureichen. Zu deren zwanghaften Distinktionsstrategien gehört es nicht nur, sich auf Teufel komm raus von der normalen AOK-Plebs zu distanzieren. Sondern auch, es besser zu wissen als die sogenannte „Schulmedizin“. – Da nun aber Globuli erwiesenermaßen nicht gegen Masern helfen, wäre vielleicht eine Prise paternalistischer Fürsorge, sprich eine allgemeine Impfpflicht, das geeignete Antidot.

WDR 3 Mosaik 13. März 2019