Nichts dazugelernt

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„Dunkel erinnere ich mich, dass wir als Siebenjährige irgendein Lied von der ‚fröhlichen, seligen Kinderzeit’ auswendig lernen mussten“, schrieb Stefan Zweig in seinem autobiographischen Buch „Die Welt von gestern“ über die Schule im 19. Jahrhundert. Und fährt fort: „Ich kann mich nicht besinnen, je ‚fröhlich’ noch ‚selig’ innerhalb jenes monotonen, herzlosen und geistlosen Schulbetriebs gewesen zu sein.“

Schenkte man den Schlagzeilen über die neueste Bertelsmann-Studie zur Situation der Kinder und Jugendlichen an deutschen Schulen Glauben, hat sich das deutschen Schulsystem aufs Niveau des 19.Jahrhundert heruntergewirtschaftet. „Fast jedes dritte Kind erlebt in der Grundschule Gewalt.“ „Ein Viertel der Kinder fühlt sich in der eigenen Schule nicht sicher.“ – Dagegen protestierte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Hans-Peter Meidinger und warnte davor, ein verzerrtes Bild darzustellen. Zu Recht. Denn ein genauerer Blick in die Studie zeigt, dass sich die deutschen Schulen keineswegs in einem solchen Zustand der Verwahrlosung befinden, wie ihn die Schlagzeilen suggerieren.

Denn die Hauptaussage der Studie ist, dass sich die Mehrzahl der befragten Kinder und Jugendlichen in der Schule wohl und sicher und von ihren Lehrern anerkannt und ernst genommen fühlt. Geht man allerdings ins Detail der Untersuchung, wird es problematischer, vor allem was die Grund- und Hauptschulen betrifft. 30 Prozent der Grundschüler beklagen sich darüber, Opfer von Ausgrenzung und von Gewalt durch Mitschüler geworden zu sein. Davon besonders betroffen sind arme Schülerinnen und Schüler. Über 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben nicht nur Schulsorgen. Ab Mitte des Monats können sie zu Hause nicht mehr nach Geld für einen Kinobesuch fragen. Die Studie sieht einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen den finanziellen Sorgen der Kinder zu Hause und Hänseleien und physischer Gewalt in der Schule.

Und die Lehrer? Wozu sind die Lehrer da? Und wieso tun sie nichts dagegen? Auch mit dieser Frage beschäftigt sich die Bertelsmann-Studie. Sie bestätigt den Grundschullehrerinnen, sehr präsent in ihren Klassen zu sein und eine vertrauensvolle Beziehung zu den Schülern zu pflegen. Andererseits aber fehlen ihnen die Zeit und die Ressourcen, sich um alle Probleme zu kümmern, etwa, was die Gewaltprävention angeht. – Angesichts der Herausforderung, dass sie immer mehr Erziehungsaufgaben übernehmen müssen, sind die Lehrer überfordert, „allein gelassen“, wie es in der Studie heißt. Allein gelassen von einer länderübergreifenden Schulpolitik, die seit Jahren der von der Kanzlerin ausgerufenen „Bildungsrepublik“ Hohn spricht. Eine Schulpolitik, die unbelehrbar einen riesigen Lehrermangel vor sich her schiebt. Und die – etwa mit der sogenannten „Inklusion“ – systematisch die Überforderung der Lehrer ignoriert.

Er könne sich eines gewissen Neides nicht erwehren, setzt Stefan Zweig seine bösen Schulerinnerungen aus dem 19. Jahrhundert fort, wenn er sähe, „um wie viel glücklicher, freier, selbständiger sich in diesem Jahrhundert die Kindheit entfalten kann.“ Er meinte das 20. Jahrhundert. Das ist, zumindest was die Schulpolitik angeht, jetzt offensichtlich ganz und gar vorbei.

WDR 3 Mosaik 5. Juli 2019