Die Kognitive Dissonanz

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Am 21. Dezember 1954 war es mal wieder Zeit für einen Weltuntergang. Die Mitglieder einer Sekte im US-Bundesstaat Wisconsin jedenfalls waren davon überzeugt, eine Sintflut würde an diesem Tag alles Leben auf der Erde vernichten. Als der 21. Dezember vorüber war, hatte es noch nicht einmal geregnet. Die Sekte erklärte das Ausbleiben der Sintflut damit, dass sie Gott mit ihren Gebeten umgestimmt hätten. – Der amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger entwickelte am Beispiel dieser Sekte seine Theorie der Kognitiven Dissonanz. Die besagt, dass wir uns schlecht fühlen, wenn wir uns konträr zu unseren Überzeugungen verhalten. Eine Lösung aus diesem Dilemma gibt es nur, wenn wir entweder unser Verhalten oder unsere Überzeugungen verändern. Oder uns, wie die Sekte in Wisconsin, was in die Tasche lügen, um nicht als die Dummen dazustehen.

Man darf gespannt sein, was die Wähler der Grünen sich einfallen lassen, um das Ergebnis einer Umfrage der „Forschungsgruppe Wahlen“ zu erklären. Danach steigen ausgerechnet sie am häufigsten in ein Flugzeug. Noch vor den FDP-Wählern! 46 Prozent der befragten Grünen-Wähler gab an, im letzten Jahr eine Flugreise angetreten zu haben. Die Hälfte der Befragten sagte sogar: „Ich fliege gerne!“ Inwieweit sich diese Hälfte mit den 60 Prozent der Umfrage-Beteiligten deckt, die einräumten, sich für das Fliegen zu schämen, geht aus der Studie nicht hervor.

Aus dem Alltagsphänomen der Kognitiven Dissonanz ist inzwischen ein grundsätzlicher, unsere gesamte Lebensweise in Frage stellender Konflikt geworden. Es geht nicht mehr darum, wie wir vor uns das Nichteinhalten unserer guten Silvester-Vorsätze rechtfertigen. Das Unwohlsein, das aus dem Wissen über die verheerenden Folgen unseres alltäglichen Verhaltens entsteht, geht längst über das hinaus, was man mal ein „schlechtes Gewissen“ nannte. Es ist von einem individuellen zu einem politischen Phänomen geworden.

Zumindest deutet manches darauf hin. Wenn ausgerechnet ein Lebensmittelkonzern wie Nestlé seine Schoko-Riegel künftig in Papier statt in Plastik verpacken will, ist das natürlich zuerst bloß ein Werbetrick. So lässt sich das schlechte Gewissen der Plastik-verbrauchenden Konsumenten für den Profit nutzbar machen. Andererseits aber zwingt die wachsende Kognitive Dissonanz der Bürger in Umweltfragen Industrie und Politik zum Umdenken. Wenn auch nicht zu einem entsprechend konsequenten Handeln. Für die Rückkehr zum Kolonialwarenladen fehle ihm die Phantasie, sagt, auf den Verpackungswahn seiner Branche angesprochen,  der Präsident des deutschen Lebensmittelverbandes. Er sollte sich mal in den „Unverpackt“-Läden umsehen, die überall aus dem Boden schießen.

Die Grundannahme der Theorie der Kognitiven Dissonanz war, dass wir alle nach Konsonanz, also nach Harmonie und Übereinstimmung mit uns selbst streben. Das scheint angesichts der Realitäten des 21. eine fromme Wunschvorstellung zu sein. Zu undurchsichtig, zu komplex für jede noch so wohl gesinnte Überzeugung ist die Wirklichkeit. Was wir auch tun, wie immer wir uns verhalten, ist verkehrt. Selbst im Banalsten. Verzichten wir auf den Plastiküberzug der Gurke, nehmen wir in Kauf, dass der Supermarkt sie in zwei Tagen auf den Müll schmeißt.

Mit ein bisschen weniger Plastik und ein paar „Unverpackt“-Läden lässt sich der kommende Weltuntergang nicht aufhalten. Wir werden ihm voller Dissonanzen entgegen sehen müssen.

WDR 3 Mosaik 23.07.2019