Im Fall des Kindesmissbrauchs im niedersächsischen Lügde sind Ende der letzten Woche die Urteile gefallen. 12 und 13 Jahre müssen die beiden Angeklagten in Haft, anschließend in Sicherheitsverwahrung. Auch wenn nun ein Urteil gesprochen wurde, bleiben im Fall Lügde noch immer viele Fragen ungeklärt. Die Richterin hatte schon zu Beginn des Prozesses klargemacht, dass das Verfahren in Detmold keine Antworten auf das mögliche Versagen der Behörden liefern werde. – Behördenversagen.
Der Innenminister lobte das Urteil als „Warnung an alle Täter“. Welche Täter meinte er? Diejenigen, die die unsäglichen Verbrechen begingen? Oder diejenigen, die sie ermöglichten? Die sich in ihren Amtsstuben durch Wegschauen, Verschweigen und Vertuschen zu Mittätern machten? – Als er erfuhr, dass der Hauptangeklagte bereits vor 17 Jahren verdächtigt worden war, eine damals Achtjährige missbraucht zu haben, aber damals kein Verfahren eingeleitet wurde, sprach der Innenminister von einer „besonders schockierenden Erkenntnis“. Wie schockiert wird er am Ende der nun aufgenommenen Ermittlungen sein, wenn sich herausstellte, dass die behördliche Ignoranz im Fall Lügde System hätte?
Nach alldem, was jetzt schon bekannt ist, hatte sie durchaus System. Sie war kein Wegschauen aus Bequemlichkeit oder wegen Überforderung, sondern ein bewusstes, willentliches Wegschauen. Oder wie anders soll man es bezeichnen, wenn eine Jugendamtsbehörde einem 50-jährigen Junggesellen, dessen pädophile Neigung bekannt ist, die Pflegschaft über ein dreijähriges Kind gibt? Oder eine Polizeidienststelle sich erst zehn Tage, nachdem eine Mutter Anzeige wegen Kindesmissbrauch erstattet, auf den Weg macht und das Kind befragt? Und es dann dabei belässt, der Tat nicht auf die Spur geht?
Bürokratien haben die Eigenart, Verantwortungen möglichst an die nächste Abteilung weiter zu schieben. Das führt sehr schnell zu einem System kollektiver Verantwortungslosigkeit: Da niemand an irgendetwas schuld sein kann, wird am Ende das Leid oder gar der Tod von Menschen in Kauf genommen. So etwas nennt sich dann leichthin „Behördenversagen“. Das Resultat aber sind das amtliche Wegschauen bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg, beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs – oder das polizeiliche Scheitern während der Aufdeckung der NSU-Morde. Hinzu kommen systematische Schwachstellen: Eitelkeiten und Inkompetenz in den Ämtern, Blindheit auf dem rechten Auge der NSU-Verfolgungsbehörden.
Im Fall Lügde ist diese organisatorische Blindstelle wohl nicht allein die „mangelnde Sensibilität“ der Ämter beim Thema Kindesmissbrauch, wie ein Landrat beklagte. Möglicherweise ist es zusätzlich auch eine mangelnde soziale Sensibilität. – Am Tag der Urteilsverkündung gab das Statistische Bundesamt eine Pressemitteilung heraus, in der ein erheblicher Anstieg der Kindeswohlgefährdung festgestellt wurde: Zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mehr als 50.000 Kinder und Jugendliche sind demnach an Seele und Leib gefährdet, werden vernachlässigt und misshandelt. Sie alle stammen aus „sozial prekären Verhältnissen“. – Und das tun auch die betroffenen Kinder, die Opfer im Fall Lügde. Sie alle kommen aus „prekären“ Verhältnissen, wo überforderte Eltern froh sind, die Verantwortung für die Kinder los zu werden und wo dann auch Behörden sich gerne mal überfordert fühlen. Der Fall Lügde ist auch ein Fall von Kinderarmut. Und ein Exempel darauf, dass hierzulande die Kinder der Armen wohl nicht so wichtig sind.
WDR 3 Mosaik 9. September 2019