Verlustängste in der Klassengesellschaft

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Seit dem Jahr 2013 beauftragt der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) das Institut für Demoskopie Allensbach mit einer Umfrage, durch die der Stimmung in der Bevölkerung auf den Grund gegangen werden soll. Ende letzter Woche wurde die Studie für das Jahr 2019 vorgestellt. Ihr zufolge geht es den „mittleren Generationen“, also den Menschen zwischen 30 und 60 materiell so gut wie nie. Doch beängstigen sie eine zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft, gekoppelt an eine ebenfalls zunehmende Zukunftsangst.

Soziologen versuchen mit ihren Begriffen manchmal, Gesellschaften ihre Selbstdeutung nahe zu bringen. Meistens mit Erfolg. Helmut Schelsky prägte mit dem Begriff der „nivellierten Mittelstandgesellschaft“ in den 50er und 60er Jahren die Vorstellung, als stünden Fabrikarbeiter und Fabrikdirektor auf einer Stufe. Als gäbe es in der Bundesrepublik keine unterschiedlichen sozialen Schichten oder Klassen mehr. In den 80er Jahren beschrieb Ulrich Becks Begriff von der „Risikogesellschaft“ eine Gesellschaft, die zwar noch soziale Unterschiede kennt, in der aber Erfolg und Scheitern im Wesentlichen zu persönlichen, individuellen Angelegenheiten geworden sind. Jeder seines Glückes Schmied. Auf die Idee, Deutschland als eine „Klassengesellschaft“ zu beschreiben, kam lange Zeit niemand mehr. Erst recht nicht nach dem Ende des Sozialismus und Fukuyamas „Ende der Geschichte“.

Erst vor etwas mehr als zehn Jahren tauchte in der Soziologie wieder die Rede von der „Klassengesellschaft“ als einer Gesellschaft auf, die sich in Besitzende und Nichtbesitzende teilt. Und in der die soziale Lage kein Einzelschicksal darstellt, sondern an die Kinder weitergegeben wird. Der Dresdner Soziologe Karl-Siegbert Rehberg sprach 2006 allerdings noch von einer „unsichtbaren“ Klassengesellschaft. Denn bis dahin fehlte es an statistischem Material über die Verteilung des Eigentums. Seitdem aber hat die Sichtbarkeit von sozialer und ökonomischer Ungleichheit erheblich zugenommen. Nicht nur statistisch. Auch in den Gefühlslagen der Bürger bildet sie sich ab.

Auf den ersten Blick lassen die Ergebnisse der neuen Allensbach-Umfrage lediglich den Schluss zu, dass es sich bei den Deutschen um eine überaus verängstigte, sehr verunsicherte Gesellschaft handelt. Dass also die vor fünf Jahren getroffene Diagnose des Kasseler Soziologen Heinz Bude von einer „Gesellschaft der Angst“ zutrifft: Mehr als zwei Drittel der 30- bis 60-jährigen  nehmen wahr, dass Aggressivität, Intoleranz und Egoismus zunehmen, dass Regeln nicht mehr beachtet werden, gutes Benehmen an Bedeutung verliert, dass die Menschen immer mehr unter Zeitdruck leiden und ungeduldiger werden.

Bei näherem Hinschauen jedoch lässt sich hinter all diesen Befürchtungen und Ängsten sowohl die Wahrnehmung wie die Realität einer tief gespaltenen Gesellschaft erkennen. In den Antworten drückt sich nicht nur die Angst vor einer unsicheren individuellen Zukunft aus. Verlustangst und Angst vor Altersarmut. Die Befragten haben sich auch Gedanken über die Ursachen der in ihren Augen verschlechterten gesellschaftlichen Situation gemacht. Die zunehmende Aggressivität führen sie auf einen schwächer gewordenen gesellschaftlichen Zusammenhalt zurück. Zwei Drittel empfinden Deutschland als eine „Ellenbogengesellschaft“. In Ostdeutschland sind es sogar drei Viertel. Und eben auch drei Viertel aller Umfrageteilnehmer antworten auf die Frage, was es ist, was in unserer Gesellschaft vor allem trennt: Die Einkommensunterschiede. Und: „Die soziale Schicht, zu der man gehört.“

Daraus den Schluss zu ziehen, dass es in Deutschland wieder so etwas wie ein Klassenbewusstsein gibt, ist natürlich abwegig. Aber aus der Abwesenheit von Klassenbewusstsein oder gar von Klassenkämpfen den Schluss zu ziehen, Deutschland sei keine Klassengesellschaft mehr, ist mindestens ebenso abwegig.

WDR 3 Mosaik 16. September 2019