Kate Atkinson, Deckname Flamingo. Roman

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Kate Atkinson, Deckname Flamingo. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Droemer 2019. 330 Seiten. 20 Euro

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In Spionageromanen geht es meist um nichts weniger als ums Weltschicksal. Finstere Geheimdienste bedrohen den Frieden, die Zivilisation wankt dem Rand des Abgrunds entgegen. Selbst subtile Autoren wie John le Carré können sich von dieser Genre-Vorgabe nicht befreien. Wie erfrischend also, wenn eine Autorin wie Kate Atkinson, die sich bisher von dieser Gattung fernhielt, eine unerfahrene 18-Jährige zur Heldin einer Agentengeschichte macht. – Julia Armstrong musste wegen der Krankheit ihrer Mutter ihr Studium abbrechen. Nach deren Tod bewirbt sie sich bei den britischen Streitkräften. Es ist 1940, Britanniens erstes Kriegsjahr. Das Land ist von außen, aber auch von Innen durch Nazi-Deutschland bedroht. Deshalb landet Julia nicht bei den Streitkräften, sondern beim Inlands-Geheimdienst Ml5. Dass der mit ihr einen Fang gemacht hat, zeigt sich schon beim Einstellungsgespräch mit einem MI5-Oberen.

„Wenn Sie sich entscheiden müssten, was wären Sie lieber – eine Kommunistin oder eine Faschistin?“ „Das ist keine besonders gute Auswahl, oder, Sir?“ „Sie müssen sich entscheiden. Jemand hält Ihnen eine Pistole an den Kopf.“ „Ich könnte mich dafür entscheiden, erschossen zu werden?“ „Nein, das können Sie nicht. Sie müssen sich für das eine oder andere entscheiden.“ Der Kommunismus erschien Julia als die freundlichere Doktrin. „Faschismus“, bluffte sie. Er lachte.

Doch so gewitzt und fähig zur Verstellung Julia auch ist: Sie ist eine Frau. Und Geheimdienst nun mal Männersache. Darum muss sie zunächst die Tonbandaufnahmen von Gesprächen abtippen, die eine Gruppe britischer Nazi-Sympathisanten in einer konspirativen Wohnung führen. Geleitet wird diese Gruppe von Godfrey Toby, einem MI5-Agenten, der sich als Gestapo-Abgesandter ausgibt. Nachdem sie sich als Tippse bewährt und zum Schein eine Verlobung mit ihrem verklemmten und sich später als homosexuell erweisenden Führungsoffizier eingegangen ist, wird Julia befördert und, mit einer neuen Identität ausgestattet,  als Agentin in den Right Club eingeschleust: Eine bizarre Versammlung hoher britischer Amts- und Würdenträger, allesamt schäumende Antisemiten und glühende Bewunderer Hitlers. Auch in dieser Rolle bewährt sich Julia, selbst wenn sie dabei für die Ermordung einer Unschuldingen verantwortlich wird.

So könnte es mit immer weiteren Verwicklungen und überraschenden Wendungen weitergehen und der Leser könnte anerkennend nicken: Kate Atkinson versteht auch als Agententhriller-Autorin ihr Handwerk. Doch beherrscht sie weit mehr als das: Ihr Roman weit geht über das Erzählen eines Spionage-Plots hinaus, ist gleichzeitig auch die Analyse einer Gesellschaft im Ausnahmezustand, die befallen ist von der paranoiden Angst vor einem allgegenwärtigen Feind.

Julia verbrachte viele öde Stunden damit, „Spionagefieber“-Berichte von Agenten im ganzen Land abzutippen. Sie hatten Leute befragt, die meinten, die Regierung unbedingt wissen lassen zu müssen, dass sie glaubten gesehen zu haben, wie ein Kontingent der Hitlerjugend mit Fahrrädern über die South Downs gefahren war. Oder dass ihre Nachbarin – eine „deutsch aussehende Frau“ – die Windeln auf eine Weise zum Trocknen aufhängte, die auf „ein Signal“ schließen ließ. Und natürlich all die üblichen Beschwerden über Leute, die einen Deutschen Schäferhund besaßen.

Was aber Kate Atkinsons Roman zu einem ganz besonderen Agentenroman macht, ist einerseits sein Genre-untypischer Humor. Zum anderen verleiht Atkinsons Montage-Technik ihrem Roman eine außergewöhnliche literarische Raffinesse – und eine gehörige Portion Spannung. Er spielt auf zwei miteinander verschränkten Zeitebenen: 1940 und, zehn Jahre später, 1950. 1950 ist Julia aus dem MI5 ausgeschieden und arbeitet bei der Londoner BBC als Schulfunk-Produzentin. Doch ist sie wirklich raus aus dem Geheimdienst? Ein früherer Vorgesetzter trifft sich mit ihr im Museum und gibt ihr einen neuen Auftrag.

„Nein!“ flüsterte sie. „Tun Sie das nicht. Es ist vorbei. Sie haben es selbst gesagt.“ „Ich habe gelogen.“ „Ich mache nicht mehr mit. Sie selbst haben gesagt, wenn ich diese eine Sache noch mache, wäre ich danach frei.“ Sie klang in ihren eigenen Ohren wie ein bockiges Kind. „Ach, meine liebe Julia“, sagte er und lachte. „Man ist nie frei. Es ist nie vorbei.“

Immer massiver springen sie die Schatten der Kriegsvergangenheit an. Eine anonyme Drohung wird am BBC-Empfang für Julia abgegeben: „Du wirst bezahlen für das, was du getan hast.“ Und plötzlich taucht Godfrey Toby wieder auf, – und tut so, als kenne er sie nicht. Dabei fällt ihr wieder ein, dass er sich damals, 1940, tatsächlich verdächtig konspirativ verhalten hat. So, als gehöre er zur anderen Seite. Sie fühlt sich nicht nur verfolgt, sie wird verfolgt, kann niemandem mehr trauen und muss ihrerseits die Verfolgung der früher von ihr Bespitzelten aufnehmen. Nichts ist so, wie es scheint, niemand der, der er vorgibt zu sein. Selbst Julia, die Heldin, die der Leser nach über 300 Seiten doch zu kennen glaubt, hat vor ihm sorgfältig ein Geheimnis verborgen, das ganz am Ende dieses wunderbaren, von Anette Grube flott übersetzten Romans zu einer wirklich überraschenden Wendung führt.

WDR 3 Mosaik 2. Oktober 2019