Erzwungene Freiwilligkeit

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Am Donnerstag entscheidet der Bundestag über ein Organspendegesetz. Die Diskussion darüber wird in der Gesellschaft seit einiger Zeit schon sehr emotional geführt. Und wird es auch am Donnerstag im Bundestag. Denn wie bei allen ethischen Fragen ist bei dieser Entscheidung der Fraktionszwang aufgehoben, d.h. jede/er Abgeordnete entscheidet nach eigenem Gewissen und namentlich. Zur Auswahl stehen zwei konkurrierende Gesetzesentwürfe. Zum einen der einer Gruppe um die Grüne Annalena Baerbock, die für eine „informierte Entscheidungslösung“ plädiert. Die setzt eine ausdrückliche Zustimmung potentieller Organspender voraus. Zum anderen der einer Gruppe um Bundesgesundheitsminister Spahn und den SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach, der sich „doppelte Widerspruchslösung“ nennt. Danach gilt jeder Bürger als möglicher Organspender, der zu Lebzeiten keinen Widerspruch gegen eine Organentnahme erklärt hat. Der zweite, „doppelte“ Widerspruch soll von seinen Angehörigen kommen. Doch die können ihn nur einlegen, wenn sie einen anderslautenden Willen des Toten beweisen können. Sie selbst haben kein Widerspruchsrecht. Ist die „Freiwilligkeit“ dieses Gesetzesentwurfs vielleicht ein doppelter Etikettenschwindel? 

Die Kompliziertheiten des modernen Lebens machen das Verhältnis der einzelnen Bürger zum Staat zu einem immer brisanteren Spannungsfeld. Galt es bisher, in den Debatten um Datenschutz und Lauschangriff zwischen der Freiheit des Bürgers und seiner Sicherheit abzuwägen, geht es am Donnerstag im Bundestag jetzt gar um das Abwägen zwischen der Freiheit des Einzelnen und – seinem Recht auf Leben. Diese Alternative jedenfalls brachte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gestern in einem Interview selbst ins Spiel. Der Gesetzesentwurf, den er vertritt, gibt dem „Recht auf Leben“ eindeutig den Vorrang. Allerdings dem Leben der anderen. Derjenigen, die dringend auf eine Organspende angewiesen sind. Allen anderen aber schränkt er ihre Freiheit, selbst über ihr Leben zu entscheiden, erheblich ein.

Der Hauptsatz des Grundgesetzes lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Essenz dieser Würde ist es, über sein eigenes Leben zu entscheiden. Und unserem Kulturverständnis nach gehört ganz selbstverständlich zum Leben auch das Sterben und der Tod. Und die Entscheidung darüber, was mit unserem Leichnam nach dem Tod geschieht. Das ist allein Angelegenheit des Einzelnen. Und nie die des Staates. Soweit das Grundgesetz. Über das glauben sich die Vertreter der „doppelten Widerspruchslösung“ jedoch hinwegsetzen zu können, weil sie der Logik von Nützlichkeitserwägungen den Vorrang geben:Wie können wir erreichen, dass mehr Organe zur Verfügung stehen?

Dass es mehr Organspenden geben muss, um das Leid der Empfänger zu mindern, steht außer Frage. Und ist außerdem ein Gebot gesellschaftlicher Solidarität. Der Zweck eines Organspendegesetzes ist gut. Doch heiligt der Zweck bekanntlich nicht die Mittel. Denn um die Solidarität der potentiellen Spender einzufordern, bedient sich der Entwurf der„doppelten Widerspruchslösung“ eines doppelten Etikettenschwindels. Die Freiwilligkeit, die er proklamiert, ist nicht echt. Wer über sein Widerspruchsrecht drei Mal informiert wurde, darauf aber nicht reagierte, wird wohl wissen, was er tut. – Etwas als „Spende“ zu bezeichnen, das nur gegeben bzw. entnommen wird, weil dem nicht widersprochen wurde, kann keine echte Spende sein. Per Gesetz wird so aus „Freiwilligkeit“ ein Zwang.

Die „doppelte“ Absicherung der Freiwilligkeit, nämlich die Zustimmung der Angehörigen zur Organentnahme, ist erst recht ein bloße Behauptung. Denn tatsächlich haben die Angehörigen überhaupt kein Widerspruchsrecht. Sie dürfen bloß Verfügungen des Verstorbenen vorlegen, die der „Spende“ widersprechen. – Und mit noch einem weiteren Etikettenschwindel operiert dieser Entwurf. Er bringt des Begriff des „Hirntods“ ins Spiel, macht ihn zur Voraussetzung der Organentnahme. Damit aber setzt er sich willkürlich ins Recht eines Entscheiders über Leben und Tod. Denn „hirntot“ ist keineswegs gleichbedeutend mit „tot“. Auch wenn sein Hirn „tot“ ist, befindet sich ein Mensch noch im Prozess des Sterbens. Und dass seine Angehörigen an diesem Prozess teilnehmen, gehört mit zur Würde des Menschen.

Die zu verteidigen ist Aufgabe der Bundestagsabgeordneten. Neben dem Entwurf der „doppelten Widerspruchslösung“ haben sie dazu in einem konkurrierenden Gegenentwurf eine echte Alternative. Die sieht nämlich eine ausdrückliche Zustimmung zur Organspende vor.

WDR 3 Resonanzen 14. Januar 2020