Der Krieg ist doch der Vater aller Dinge

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Seit zweieinhalbtausend Jahren, seit dem Philosophen Heraklit, wissen wir, dass der Krieg der Vater aller Dinge ist. Das vergessen wir allerdings zwischendurch immer wieder, weil, bei uns zumindest, die letzten Kriege Generationen zurückliegen. Dann müssen uns Historiker an die „Gestaltungskraft“ von Kriegen erinnern. Daran, wie sie alle bisherigen Erfahrungen auf den Kopf stellten, den Alltag, das Leben überhaupt völlig veränderten. – Gedächtnisse sind schwach. Die Sprache aber ist stark im Bewahren dessen, was der Krieg zwang, neu zu lernen. Schon der Erste Weltkrieg hinterließ im deutschen Sprachschatz ein großes Repertoire an sprachlichen Neuschöpfungen. Diese sogenannten Neologismen speichern nicht nur die neuen Erfahrungen, sie ebnen auch den ihnen folgenden neuen Praktiken den Weg.

Die Wendung „einen Zahn zulegen“ beispielsweise stammt aus der Pilotensprache des Ersten Weltkrieges. Seitdem steht sie für das unverändert gültige erste Gebot aller gesellschaftlichen Bewegung: Beschleunigung. Andere Weltkriegs-Ausdrücke wie „auf Tauchstation gehen“, „Tretmine“, „Trommelfeuer“, „Materialschlacht“ oder „Grabenkämpfe“ haben bis heute einen unverändert hohen Stellenwert im politische Alltag. Und wie die vergangenen Weltkriege wird auch dieser neue Weltkrieg, der gegen das Virus, bleibende Spuren in unserer Erfahrung und damit auch unserer Alltagssprache hinterlassen. Denn darüber sind sich ja wohl mit dem französischen Präsidenten Macron die meisten einig und darauf verweist das martialische Vokabular der tagtäglichen Virenberichterstattung, – von der „Eindämmung“ bis zur „Triage“: Es ist ein Krieg, den wir führen. Und der wird uns nicht bloß in den Klamotten hängen bleiben.

Insofern ist es konsequent, überdies sehr erhellend und mitunter auch sehr lustig, wenn der niederländische Wörterbuchherausgeber Van Dale jetzt ein 700 Neologismen umfassendes Wörterbuch ins Netz stellt: Wortneuschöpfungen um das Corona-Virus. Lustig sind Vokabeln wie „Corona-Kilo“ für die während des Stubenarrests angefressenen Pfunde. „Balconversatie“ oder „balkonbezoek“ für das Nachbarschaftsleben auf Distanz. Oder „Corona-Choreografie“ für die mehr oder weniger eleganten Ausweich- und Vermeidungsbewegungen bei Begegnungen auf der Straße. Analog die Ausdrücke „afstandsschaamte“ oder „snotterschaamte“ – die allgegenwärtig dabei empfundene allgemeine und die Schnäuz- oder Nies-Scham im Besonderen.

Während solche Neubildungen vergessen werden, sagt der Wörterbuchherausgeber, wird es aber auch solche geben, die dauerhaft im Sprachgebrauch erhalten bleiben. Weil sie grundlegend neue Erfahrungen im Alltagsleben spiegeln. Und wahrscheinlich auch die ihnen folgenden neuen gesellschaftlichen Praktiken der Zukunft. „Thuisquarantaine“ oder „zelfisolatie“ oder „eenzaamheidsvirus“ sind solche Vokabeln. Hausquarantäne, Selbstisolation, Einsamkeitsvirus. – Okay. Wir sind im Krieg. Aber gab es das es nicht lange vorher schon Studien über eine wachsende Isolation der Einzelnen in unserer Gesellschaft? Richtete Großbritannien nicht schon vor zwei Jahren ein „Ministerium für Einsamkeit“ ein? Wenn schon nicht als Vater, so erweist sich jetzt der Krieg doch wieder als der Beschleuniger aller Dinge. Vor allem der schlechten. 

WDR 3 Resonanzen 20. April 2020