Volker Ullrich, Acht Tage im Mai

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Volker Ullrich, Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches. C.H.Beck, 317 Seiten. 24 Euro

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Der 8. Mai 1945 gilt gemeinhin als der Tag des Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei ist er lediglich der Tag, an dem die deutsche Wehrmachtsführung die Kapitulation unterschrieb. Das aber war nur der Schlusspunkt eines längeren Prozesses, eines vieldeutigen, widersprüchlichen und chaotischen Geschehens. Lange vor dem 8. Mai hatte sich der größte Teil der deutschen Wehrmacht schon den Westalliierten ergeben. Die hielten seit Mitte April bereits große Teile Deutschlands besetzt, gaben – zum Beispiel in Aachen – Zeitungen heraus und installierten neue demokratische Obrigkeiten. Gleichzeitig wurde bis zum 8. Mai gekämpft, jagten fanatische Nazis Menschen, die weiße Fahnen zeigten und in Flensburg existierte noch über den 8. Mai hinaus eine nationalsozialistische Regierung.

Um dieser Zeit der widersprüchlichsten Gleichzeitigkeiten gerecht zu werden, beginnt Volker Ullrich seine Darstellung am 30. April 1945, dem Tag, an dem Hitler sich umbrachte. Und geht von da Tag für Tag voran bis zum 8. Mai und zeigt für jeden Tag dieser „letzten Woche des Dritten Reiches“ an unterschiedlichen Orten die Auflösung des Alten sowie die Entstehung des Neuen. – Am 1. Mai gehen in Berlin auch nach Hitlers Tod die Kämpfe unvermindert weiter. Goebbels bringt sich, seine Frau und seine sechs Kinder um. Am 2. Mai kapituliert Berlin. Auch im Norden Berlins, in Mecklenburg-Vorpommern, marschiert die Rote Armee ein, und noch bevor sie dort die Stadt Demmin erreicht, beginnen deren Einwohner sich umzubringen. Am Ende, am 6. Mai,  werden es fast 1.000 Menschen sein.

Der Massensuizid von Demmin war beispiellos. Aber auch in vielen anderen Orten kam es im Chaos des Kriegsende zu einer Welle von Selbsttötungen, so dass man von einer regelrechten „Selbstmordepidemie“ sprechen kann. Und es war  nicht allein die Angst vor der Roten Armee, die Furcht vor der Rache der Sieger, die Menschen dazu trieben, sich das Leben zu nehmen. Nicht nur für führende NS-Funktionäre, sondern für viele gewöhnliche Deutsche , die dem Führermythos verfallen waren und die Normen des NS-Regimes verinnerlicht hatten, war ein Leben ohne Hitler und den Nationalsozialismus kaum vorstellbar.

In Flensburg tagt in den ersten Maitagen das Kabinett des Hitler-Nachfolgers Dönitz und schmiedet mit Heinrich Himmler und Albert Speer noch Zukunftspläne. Speer hält am 3. Mai eine Rundfunkrede, mit der er die Grundlage für die spätere Interpretation der deutschen Niederlage als Leidensgeschichte legt: „Noch niemals wurde ein Kulturvolk so schwer getroffen…“ Gleichzeitig bereitet in Berlin die „Gruppe Ulbricht“ die Machtübernahme der Kommunisten vor. In Köln machen die Alliierten am 4. Mai Konrad Adenauer wieder zum Oberbürgermeister, am 6. Mai gründet Kurt Schumacher in Hannover die neue SPD. Aber noch an diesem 6. Mai ziehen unter dem Kommando von SS-Männern Kolonnen von KZ-Insassen auf „Todesmärschen“ durch deutsche Dörfer und Städte.

Die Todesmärsche spielten sich vor den Augen der Bevölkerung ab. Viele wurden zu Zeugen des Massenmordes vor der Haustür, mussten mit ansehen, wie die ausgemergelten Gestalten von den Wachmannschaften geprügelt und erschossen wurden. Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Mitleidige Bürger, meist Frauen, ließen sich anrühren und versuchten, Wasser oder etwas Essbares bereitzustellen. Doch verbreiteter als die Unterstützung waren Passivität und Abwehr. Viele ließ der Anblick der Elendszüge gleichgültig , oder sie empfanden Angst, auch vor den Häftlingen, die in ihrem heruntergekommenen Zustand ein lebendiger Beweis dafür zu sein schienen, dass es sich um „Asoziale“ und „Volksschädlinge“ handeln müsse.

Am 8. Mai ist auch dieser Spuk zu Ende und es beginnt, so eine gängige nachträgliche Interpretation dieses Zeitraumes, die „Stunde Null“. Die Stunden, Tage, Wochen und Monate eines Machtvakuums. Eines allerdings nur scheinbaren Stillstands. Tatsächlich aber entschied sich in dieser Zeit, in welche Richtung Deutschland sich weiter entwickeln würde. – Volker Ullrichs Darstellung des einwöchigen Vorlaufs dieser „Stunde Null“ wird deren inhärenten Widersprüchlichkeiten, den gleichzeitigen und gegenläufigen Geschehensabläufen auf hervorragende Weise gerecht. Seine im Wesentlichen auf der Sicht von Zeitzeugen beruhende Methode markiert die sich hier auftuenden historischen Bruchstellen, schließt eine glättende Interpretation aber aus. – Doch in der Stärke dieser Methode liegt gleichzeitig auch eine Schwäche: Die ihr folgende Darstellung bleibt episodisch. Sie ergibt zwar ein breites Panorama, verweigert aber einen entschiedenen analytischen Zugriff.

Das Kriegsende im Mai 1945 bedeutete den tiefgreifendsten Machtwechsel der deutschen Geschichte. Auch deshalb war seine Deutung in den 75 Nachkriegsjahren immer hoch umstritten, – von der „Katastrophe“ bis zur „Befreiung“. Ullrichs Buch überlässt die inzwischen längst fällige historische Beurteilung dieser Übergangszeit zu sehr den von ihm im Übermaß zitierten Zeitzeugen. Damit drückt es sich um ein eigenes Urteil, das dem 8. Mai 1945 als einem herausragenden Datum der deutschen Gedenkkultur gerecht würde.

WDR 3 Mosaik 8. Mai 2020