Regeln – sind was für die anderen

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Vom großen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß stammt die immergültige Weisheit, dass man Prinzipien hoch hängen solle. Denn so lasse sich umso bequemer darunter hergehen. Das gleiche galt ihm auch für andere Regularien. Für die Regeln des Anstandes und der Moral, der persönlichen wie der politischen. Mit allen hatte er sehr wenig zu tun. Das heißt, er verstieß fortlaufend dagegen. – Und kein Hahn krähte danach, keine einzige Wählerstimme ging ihm deswegen verloren.

Heute käme jemand wie Strauß nicht mehr durch. Auch nicht mehr einer wie Helmut Kohl mit seinem „Ehrenwort“. Spätestens am Beispiel von Theodor zu Guttenbergs Doktorarbeit wurde klar, dass die moralischen Maßstäbe für Politiker heutzutage ebenso hoch, wenn nicht noch höher sind als für alle anderen. Das ist absolut notwendig in einer repräsentativen Demokratie, deren Funktionieren auf einem hochsensiblen ethischen Vertrag zwischen Politikern und Wahlvolk beruht. Und deren Legitimität fortschreitend durch die „Politikverdrossenheit“ der Wähler, will sagen: Durch das niedrige moralische Ansehen der Politiker bedroht ist.

Angesichts dessen solltenPolitiker nicht nur, sie müssenmoralische Vorbilder sein. Zumal in einer Krise, in der sie Regeln aufstellen, die ganz massiv die Grundrechte und Freiheiten aller ganz erheblich einschränken. In der Verstöße gegen diese Regeln nicht nur irgendwie unfair sind, sondern lebensbedrohlich für andere sein können. Und wo solche quasi öffentlichen Regelverstöße zur Nachahmung ermuntern. Wenn also beispielsweise Michael Kretschmer ohne Maske mit Maskengegnern diskutiert. Oder Jens Spahn sich gegen jede Abstandsregel mit Volker Bouffier in einen ohnehin schon überfüllten Aufzug quetscht.

Im Mutterland des Fairplay und des Selbstdisziplin, in Großbritannien, führen solche Regelverstöße zu Rücktritten. Mehrere medizinische Berater mussten dort ihren Hut nehmen, weil sie sich selbst über die von ihnen mit erlassenen Regeln hinweggesetzt hatten. Nicht aber – wenigstens bisher nicht – Dominic Cummings, der oberste Einflüsterer von Boris Johnson. Er war trotz Reiseverbots auf dem Höhepunkt der Coronakrise mit seiner Familie 450 Kilometer durchs Land kutschiert. Trotz einer möglichen Corona-Infektion. Auf einer Pressenkonferenz gestern Abend sagte er dazu: „Nein, ich bedauere nicht, was ich getan habe.“  Ob die Opposition Cummings doch nochzum Abdanken zwingen kann, wird der Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Regierung Johnsons sein. Die tat sich bisher übrigens lediglich durch systematische parlamentarische Regelverstöße und – ein verheerendes Missmanagement der Coronakrise hervor.

Dagegen kann man den deutschen Politikern nicht vorwerfen, keine Vorbilder zu sein. Trotz der erwähnten kleinen Fehltritte. Oder gerade: Deswegen. Wenn Bodo Ramelow trotz Kontaktsperre zu einer Beerdigung geht oder Christian Lindner vor einem Restaurant einen Bekannten umarmt: Dann erinnert uns das doch auf rührende Weise an unsere eigenen alltäglichen Regelverstöße. Und daran, wofür Politiker aber eigentlich als moralische Vorbilder gut sind: Dass sie stellvertretend für unsmoralisch sind. Wie schön also, dass sie moralischen Prinzipien hoch halten. So können wirbequem darunter her spazieren. 

WDR 3 Mosaik 26. Mai 2020