Regieren durch Angst?

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Eine der vielen tragischen Gestalten der griechischen Mythologie ist die Seherin Kassandra: Ihre ständigen Warnungen nerven die Leute, niemand will ihr glauben und deshalb rennen alle blind in ihr Verderben. Dabei hat Kassandra recht, denn sie kann tatsächlich in die Zukunft zu sehen.

Hoffentlich verfügt die Bundeskanzlerin nicht über die gleiche Gabe. Denn wenn wirklich eintrifft, was sie vor kurzem vorrechnete, wie hoch nämlich die Corona-Infektionszahlen an Weihnachten liegen könnten, dann wehe uns! Doch solange nicht heraus ist, ob die Kanzlerin  tatsächlich eine Kassandra ist, suggerieren solche und andere Modellrechnungen eine Präzision und eine Eindeutigkeit, die es gar nicht geben kann. Sie sind viel mehr, wie ihr Namensvetter, der Berliner Politologe Wolfgang Merkel, sagte, purer Alarmismus.

Doch nicht nur der Kanzlerin, auch der Mehrzahl der Politiker attestiert der Demokratieforscher Merkel, in der Coronakrise ein „Regieren durch Angst“. Warum, wenn nicht um Angst zu schüren, orientiert sich die Politik immer an den worst cases? Warum sonst beziehen sich die Politiker eher auf die wissenschaftlichen Expertisen des pessimistischen Christian Drosten als auf die Hendrik Streeks? Und warum sonst erlassen sie so offensichtlich sinnlose und nur zur Verwirrung führende Verbote wie das unsägliche „Beherbergungsverbot“? 

Völlig sinnlos, also eine pure Schikane ist es, weil keine einzige wissenschaftliche Studie bisher gezeigt hat, dass das Reisen innerhalb Deutschlands ein Pandemietreiber ist. Vielmehr erwies sich im Laufe der Krise, dass alle Mobilitätseinschränkungen ineffizient sind: Sinn haben sie nur, wenn das Virus an einem Ort, am anderen aber nicht ist. Inzwischen ist es aber überall. Die einzigen, die das nicht zu wissen scheinen, sind die Politiker und deshalb verhalten sie sich so, als hätten sie aus der Krise nichts gelernt: Sie verbieten, sie regieren per Verordnung. 

Natürlich ist eine Vielzahl der Corona-Verordnungen dem Gefahrenpotential der Pandemie vollkommen angemessen. Vor allem dann, wenn sie aus den Erfahrungen resultieren, die man bisher mit Corona machen konnte: Einschränkungen von Familienfeiern und Maskenpflicht gehören dazu. Doch nicht dazu gehört der auf dem ständigen Beschwören der Infektionszahlen aufbauende Verbotsaktivismus.

Beides, Alarmismus und eine wachsende Flut unübersichtlicher Verbote, bewirken das Gegenteil der angestrebten Wirkung. Wie jede Wiederholung lassen die ständigen Warnungen und Appelle abstumpfen, sie machen auf Dauer müde. Und sie senken damit auch die Bereitschaft, sich an die Regeln zu halten. Nicht Angst, sondern Akzeptanz brauchen wir in der Corona-Krise, sagt der Oldenburger Verfassungsrechtler Volker Boehme-Nessler. Nur sinnvolle Normen werden akzeptiert.  Niemand wird sich auf Dauer an Regeln halten, die er sinnlos findet. – Wer durch Angst regiert, setzt nicht nur die Akzeptanz der Corona-Regeln aufs Spiel, sondern auch die Akzeptanz demokratischer Spielregeln überhaupt.

WDR 3 Mosaik 16. Oktober 2020