Beleidigtsein als politische Waffe

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Wenn einem die Argumente ausgehen, sollte man zur Beleidigung greifen. Das empfiehlt jedenfalls Arthur Schopenhauer in seinem Büchlein über die „Kunst zu beleidigen“. Denn: „Eine Grobheit besiegt jedes Argument“.So spielt denn in politischen Debatten, wo es in besonderer Weise um rationale Argumente gehen sollte, die Beleidigung immer dann eine Rolle, wenn die Argumente ausgegangen sind. Unvergessen ist die vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner im Bundestag geübte Kunst persönlichen Beleidigens. Den CDU-Abgeordneten Jürgen Wohlrabe packte er ganz unter der Gürtellinie beim Namen und titulierte ihn als „Übelkrähe“. Auch wenn man nie ganz aufklären kann, was Wehner mit der Beschimpfung der kompletten CDU als „Sie Düffel-Doffel“ meinte: Klar jedoch ist, dass solch hohe Kunst der Beleidigung nicht mehr besonders kultiviert wird.

Stattdessen üben sich Politiker immer öfter in der Inszenierung persönlichen Beleidigtseins. Also darin, sich als Opfereiner Beleidigung zu gerieren. Besonders bei rechten Autokraten gilt das offensichtlich als ein erfolgversprechender Politikstil. Keine Woche vergeht, ohne dass Präsident Erdogan sich nicht zutiefst beleidigt fühlt, keine Stunde, in der Präsident Trump nicht über ähnliche Majestätsvergehen twittert. Nun scheinen sich aber auch deutsche Politiker vom Beleidigtsein Erfolg zu versprechen. Würde man die Bedeutung eines Politikers an der Häufigkeit und dem Grad seines Beleidigtseins, aber auch am entsprechenden Gesichtsausdruck bemessen, müsste der nächste deutsche Bundeskanzler mit zwingender Notwendigkeit Friedrich Merz heißen. Bereits seinen vorübergehenden Abgang aus der Politik im Jahr 2007 zelebrierte er im Modus des Verraten- und Beleidigtseins. Des zutiefst Gekränkten. Jetzt hat er offenbar vor, sich in gleicher Manier wieder für höhere und höchste Ämter zu empfehlen.

Ob ihm das gelingen wird, ist noch nicht ausgemacht. Es hängt davon ab, in welchem Maße sich seine Parteifreunde und auch seine Wähler durch einen solchen Trick hinters Licht führen lassen. Denn ähnlich wie das Beleidigen ist das Beleidigtsein eine Strategie, rationale Diskussionen zu beenden, Argumente zu unterlaufen. Wobei das Beleidigen immerhin noch ein Kampf mit offenem Visier ist: Der, der beleidigt, gibt sich Blößen und stellt sich der Gegenwehr. Der jedoch, der den Beleidigten spielt, entzieht sich jeder weiteren argumentativen und rationalen Auseinandersetzung. Er begibt sich in die Rolle des unschuldigen Opfers, versucht auf dem Ticket des Mitleids zum Erfolg zu kommen.

Diese perfide Strategie spricht nicht für die politische Intelligenz des Kandidaten Merz. Erstens hat der Fall Martin Schulz’ eindrücklich gezeigt, dass weder Parteien noch Wähler Politiker in Opferrollen goutieren. Und zweitens ist der Versuch Merz’, seine potentiellen Wähler für dumm zu verkaufen, zu durchsichtig. Wer weiß denn heute nicht, dass hinter dem Beleidigtsein ein kindisch aufgeblähtes Ego steckt, jemand, der um die Wertschätzung anderer buhlt, weil er kein Gespür für seinen eigenen Wert hat?

WDR 3 Resonanzen 27. Oktober 2020