Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten?

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Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten? C.H. Beck 2021. 303 Seiten. 24 Euro

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Eine der Schauerfiguren der Nachkriegszeit war Ilse Koch, die Frau des Lagerkommandanten von Buchenwald. Zahllose Anekdoten kursierten über die „Bestie von Buchenwald“: Dass sie die KZ-Häftlinge als Sex-Sklaven missbrauchte, sie auspeitschte, aus der gegerbten Haut der Ermordeten gar Lampenschirme bespannen ließ. Sie und ihr Ehemann erfüllten das Klischee von den primitiven, sadistischen Nazis, den dumpfen SA-Schlägern, die Hitler zur Macht geprügelt hatten und im „Dritten Reich“ zur Herrschaft gelangt waren. Es ist ein sehr bequemes Klischee. Denn gewiss gab es solche Typen in großer Zahl. Doch indem sie zum Inbegriff der Nazis schlechthin wurden, konnte sich dahinter das Heer derjenigen wegducken, die die NS-Diktatur auf sehr viel effizientere Art und Weise nicht nur unterstützt hatten. Sondern, so urteilt der Freiburger Neuzeithistoriker Ulrich Herbert, die ihre eigentlichen Träger, die Exekutoren ihrer unfassbaren Verbrechen waren.

Konrad Adenauer bemerkte über die in den Nürnberger Nachfolgeprozessen Verurteilten im September 1952 im Bundestag, zweifellos seien die meisten von ihnen völlig unschuldig. Allerdings müsste man zugeben, dass unter ihnen auch „ein kleiner Prozentsatz von absolut asozialen Elementen“ existiere, der „wirkliche Verbrechen“ begangen habe. – Damit wurden die NS-Verbrechen vollends aus der deutschen Gesellschaft exmittiert.

Als „Nationalsozialisten“ galten also in den ersten anderthalb Jahrzehnten der Bundesrepublik die in den Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozessen verurteilten Nazi-Generäle, Politiker und Funktionäre. Und eben die „absolut asozialen Elemente.“ Alle übrigen – und dazu gehörte nicht nur die Millionen kleiner und mittlerer Parteigenossen und die sogenannten Mitläufer – durften sich bis weit in die 60er und 70erJahre als „Nicht-Nazis“ betrachten. Und taten das auch. Die Tausende in den Nürnberger Nachfolgeprozessen angeklagten SS-und Gestapo-Führer, die Staatssekretäre und Ministerialbeamten, die Kommandeure von Polizei- und Einsatzgruppeneinheiten, die deutschen Beamten und Funktionäre, die den Vernichtungskrieg im Osten und die Ermordung von Millionen Juden geplant und durchgeführt hatten, kamen mit wenigen Monaten Haft davon. Die Amnestiegesetze von 1949 und 1954 entlastete sie vollends. Statt als „Nazis“ betrachteten sie sich fortan als von deren Ideologie „Verführte“, als fehlgeleitete „Idealisten“ oder trotz ihrer Teilhabe an Terror und Vernichtung irgendwie „anständig“ Gebliebene.

Auf diese Weise entstand in Deutschland in den 50er Jahren ein sehr eigentümliches Bild von „den Nationalsozialisten“. Die Verbrechen des NS-Regimes wurden anonymisiert – Täter wie Opfer blieben namenlos. Es ist offenkundig, dass das damit einhergehende Geschichtsbild von der NS-Diktatur diese Anonymität der Träger des Regimes noch verstärkte.

Aus unterschiedlichen Perspektiven geht der Ulrich Herbert der Frage nach, wer „die Nationalsozialisten“ wirklich waren. Er untersucht zum Beispiel die Herkunft und Entwicklung des nationalsozialistischen Judenhasses, die Rolle der deutschen Professoren und die Bedeutung der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ im Dritten Reich. – Aus seinen Analysen wird deutlich, dass die tatsächlichen Stützen der nationalsozialistischen Herrschaft, also diejenigen, die man eigentlich als „Nationalsozialisten“ bezeichnen muss, eben nicht Altnazis von vor 1933 vom Schlage Ernst Röhms waren. Vielmehr entstammten sie mehrheitlich einer jungen akademischen, meist juristisch sehr gut ausgebildeten „Funktionselite“, die sich opportunistisch der Ideologie des Regimes anpasste wie zum Beispiel der spätere Ministerpräsident Hans Filbinger. Und die dann nach dem Krieg unter den beschriebenen Umständen die lasch betriebene „Entnazifizierung“ problemlos überstand, sich ebenso problemlos in die Gesellschaft der Bundesrepublik einfügen und dort wieder Karriere machen konnte.

Ohne die einstigen NS-Führungsgruppen insbesondere in den Verwaltungen wäre die Konstituierung des neuen Staates vermutlich nicht möglich gewesen. Auf der Grundlage ebendieser Auffassung basierte auch die Personalpolitik Konrad Adenauers. Die Reduktion der Verantwortung für Massenmord und Genozid auf ein paar, in der Regel bereits gestorbene Galionsfiguren ermöglichte seit den frühen 50er Jahren die putative Pauschalentlastung aller überlebenden Ex-Nationalsozialisten selbst in führenden Stellungen.

Ulrich Herbert legt mit diesem Buch so etwas wie eine Bilanz seiner lebenslangen Erforschung der nationalsozialistischen Diktatur vor: Er zeichnet die Jahrzehnte dauernde, schrittweise wissenschaftliche Enthüllung ihres wahren Charakters nach. Und damit auch die Entwicklung unseres Geschichtsbewusstseins, das letztlich dann doch eine Erinnerungskultur zustande brachte, die diesen Namen verdient.

WDR 3 Mosaik 26. März 2021