Freiheit und Freiheitsverzicht

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Auf dem Parteitag am Wochenende präsentierte sich die FDP kraftstrotzend mit alten Parolen: Mehr Freiheit, weniger Staat. Diese Freiheitsrhetorik scheint wieder anzukommen. Parteichef Lindner wurde mit 93 Prozent wiedergewählt. Umfragen sehen die FDP bei der zukünftigen Bundestagswahl satt im zweistelligen Bereich und in der Nähe der SPD. Die Mitgliederzahlen steigen

Wenn die Verteidigung der Freiheit Populismus sei, sagte FDP-Vize Wolfgang Kubicki am Wochenende, „dann will ich Populist sein.“ Es gibt keinen günstigeren Zeitpunkt für eine solche Anbiederung. Das ganze Land schreit nach Freiheit. Jetzt, wo das Ende der Krise kurz bevorzustehen scheint. Alle wollen raus aus Kontakt- und Ausgangssperren, wollen so schnell wie möglich in den nächsten Biergarten und den nächsten Flieger. Freiheit! Freiheit! Freiheit!

Natürlich ist es auch diese Freiheit, die Kubicki meint. Die Rückkehr zu den grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechten, die der Staat durch seine Coronamaßnahmen stark einschränkt. Freiheitsrechte, für die sich FDP von Beginn der Corona-Krise an tatsächlich immer wieder stark gemacht hat. Doch die Freiheit, die FDP-Chef Christian Lindner dann in seiner programmatischen Rede als Alleinstellungsmerkmal seiner Partei reklamierte, meint etwas viel Grundsätzlicheres. Gemeint ist die Freiheit vom Staat. Vehement wetterte er gegen „mehr Staat“, gegen „mehr Umverteilung“, gegen „mehr Bürokratie.“

So, als wäre nichts gewesen, nutzt die FDP die Gunst der Stunde, um jetzt wieder ihre altes Lied vom „schlanken Staat“ zu singen. So, als hätte es keine Finanzkrise gegeben, aus der allein staatliche Interventionen herausführten. Und eben nicht „der Markt“, den die FDP unverdrossen und unbelehrbar umtanzt wie das Goldene Kalb. So, als hätten sich nicht gerade zu Beginn der Corona-Krise die Schwächen des unterm Einfluss der marktliberalen Ideologie entschlackten Staates gezeigt: Über Monate waren ein am Profit orientiertes Gesundheitswesen und überforderte Verwaltungen nicht in der Lage, die Bürger mit Masken und Ärzte mit Schutzkleidung zu versorgen.

Man braucht nicht unbedingt in die Polemik des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach einzustimmen, der meinte, wenn Christian Lindner „Freiheit“ sage, „Umsatz“ gemeint sei. Klar aber ist in der Corona-Krise geworden, wie nötig ein handlungsfähiger, kräftiger, in die Zukunft investierender und Solidarität organisierender Staat in Situationen ist, in denen die Freiheit der Einzelnen zunehmend zu einem knappen Gut wird. Das trifft nicht nur auf die Pandemie zu. Sondern das gilt auch für die Klimakatastrophe. 

Dazu hat kürzlich das Bundesverfassungsgericht den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes radikal neu interpretiert. Um die Freiheit künftiger Generationen zu schonen, verlangte das Gericht  eine „verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen über Generationen“. Das heißt nichts anderes, als dass um Willen der Freiheit eine Einschränkung der Freiheit notwendig sein kann. – Diese Auffassung scheint allmählich bei der Mehrheit der Bundesbürger konsensfähig zu werden. Bei der FDP ist sie so noch nicht angekommen. Mal schauen, wie weit sie mit ihrem Freiheits-„Populismus“ kommt.

WDR 3 Mosaik 17. Mai 2021