„Jugendwort des Jahres“

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In der Sprache spiegeln sich nicht nur die Stimmungen und Denkweisen einer Sprachgemeinschaft, sondern auch der Zustand einer Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass es seit 1991 die zivilgesellschaftliche Aktion gibt, die das „Unwort des Jahres“ kürt. Deren Ziel ist es, auf öffentliche Formen des Sprachgebrauchs aufmerksam zu machen und zur sprachkritischen Reflexion anzuregen. Denn „Unwortverdächtig“ waren und sind Wörter und Formulierungen, die gegen das Prinzip der Menschenwürde oder gegen die Demokratie verstoßen, die diskriminierend, verschleiernd und irreführend sind. Das waren bisher Worte wie „ausländerfrei“, „Überfremdung“, „Kollateralschaden“, „Ich-AG“, „Herdprämie“ oder „alternativlos“.

Am Anspruch dieser sprachkritischen Aktion gemessen, könnte die Wahl des „Jugendwortes des Jahres“ auch Aufschlussreiches über die Denkweisen und Stimmungen der Jugendlichen hierzulande zutage fördern. Auf den ersten Blick scheint das auch das Ziel einer Aktion des Sprachbuch-Verlags Langenscheid zu sein, die seit 2008 das „Jugendwort des Jahres“ kürt. Aber was sagen uns Worte wie „Gammelfeischparty“ – Jugendwort des Jahres 2008, „hartzen“ (2009), „Niveaulimbo“ (2010) oder „Swag“, „YOLO“,“Babo“, „Smombie“ oder „I bims“ in den Folgejahren über die jeweilige Denkweise der Jugend?

Mit „Gammelfleisch“ sollen alle Menschen über 30 gemeint sein, „hartzen“ steht für Arbeitslose, die bloß noch rumhängen, „Niveaulimbo“ fürs ständige Absinken des Niveaus. Die übrigen Vokabeln sind englische Kunstworte oder Internet-Kürzel. – Kann man, wenn das wirklich dem Sprachgebrauch der Jugendlichen entspricht, daraus schließen, dass sie alle tendenziell menschenfeindlich, rassistisch, auf jeden Fall aber ziemlich verblödet sind? Da das kaum zutrifft, liegt der Verdacht nahe, dass diese Worte nicht den Bewusstseinszustand der Jugendlichen, sondern eher das Jugendbild der Initiatoren der Langenscheid-Aktion spiegeln. Zumindest für das Wort „Smombie“, „Jugendwort“ des Jahres 2015, ein Kunstwort aus Smartphone und Zombie, steht fest, dass es nie irgendwo im jugendlichen Sprachgebrauch auftauchte. Vielmehr handelt es sich um eine Erfindung der Langenscheider, die damit wohl ihr Lexikon „100 Prozent Jugendsprache“ attraktiver machen wollten.

Um solchen Verdächtigungen zu entgehen, lässt der Verlag seit dem letzten Jahr die Jugendlichen per Internet mit darüber entscheiden, welches „Jugendwort des Jahres“ gekürt werden soll. 2020 gewann dann tatsächlich das Wort „lost“, das den Gemütszustand der während des Corona-Lockdown eingesperrten Jugendlichen wohl einigermaßen realistisch wiedergibt. Dieses Jahr stehen bei den vom Verlag ausgewählten ersten zehn Wörtern Vokabeln wie „cringe“, „sheesh“, „same“, „sus“ oder „papatastisch“ zur Wahl. – Es ist kaum zu verstehen, warum so viele Medien diesen Quatsch immer noch ernst nehmen und mitmachen. Wer etwas darüber erfahren will, was in den Jugendlichen vorgeht, kann sich auf eine Reihe seriöser Jugendstudien wie Sinus und Shell verlassen. Wer braucht schon den niveaulosen Werbetrick eines Verlages?

WDR3 Resonanzen 10. August 2021