Spazieren gehen

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Am vergangenen Montag fand in Koblenz eine nicht angemeldete Demonstration von Querdenkern, Coronaleugnern und Impfgegnern statt. Die Polizei begleitete den Zug mit einem beträchtlichen Aufgebot – und viel gutem Willen. Zu Anfang ließ sie die Demonstranten aus ihrem Lautsprecherwagen wissen, dass sie „Ihre Versammlung sehr gerne anführe, um Ihnen einen Weg durch die Stadt zu bahnen.“ Dann bekräftigte sie sie in ihrem Vorhaben mit der Durchsage, sie sollten sich „von ihrem Vorhaben nicht abbringen und provozieren lassen“. Und am Schluss hieß es aus dem Lautsprecherwagen: „Wir, die Polizei, bedanken uns für den kooperativen und friedlichen Protest und wünschen Ihnen einen schönen Weg nach Hause.“ – Das ist in etwa so, als wenn die Polizei bei einem Einbruch zuschaut und die Einbrecher dabei anfeuert und ihnen viel Erfolg wünscht. Denn eine nicht angemeldete und nicht genehmigte Demonstration ist eine ebensolche Straftat wie ein Einbruch. – Wie konnte es dazu kommen? Waren die Polizisten Sympathisanten der Coronaleugner? Möglicherweise. Auf jeden Fall aber scheinen sie auf deren Begriffsschwindel hereingefallen zu sein: Seit einiger Zeit bezeichnen die Impfgegner ihre nicht genehmigten Demonstrationen als „Spaziergänge“. Das ist eine bewusste und infame Täuschung.

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-resonanzen/audio-zwischenruf-etikettenschwindel-100.html

„Promenade“ ist der französische Ausdruck für Spaziergang. Unter dem Begriff der „Promenadologie“ begründete der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt im Jahr 1976 eine seitdem verbreitete kulturwissenschaftliche Methode. Sie zielt darauf, die Bedingungen der Wahrnehmung bewusst zu machen und sich so der Umwelt neu zu vergewissern. Ihr zugrunde liegen experimentelle Praktiken wie vor allem „reflexive Spaziergänge“. Deshalb nannte Burckhardt sie an der Universität Kassel ursprünglich auch „Spaziergangswissenschaft“: Als Stadtplaner wollte er mit dem „Erkenntnisinstrument“ des Spaziergangs die Umgebung in die Köpfe der Menschen zurückbringen. Und damit gleichzeitig diese Köpfe frei machen für eine neue Sicht.

Ähnliches schwebte auch Johann Wolfgang Goethe für die Teilnehmer an seinem „Osterspaziergang“ vor: „Aus der Straßen quetschender Enge,/ aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht,/ sind sie alle ans Licht gebracht.“ – Dass der Spaziergang uns „ans Licht“ bringt, die Sinne und den Verstand öffnet für die Schönheit der Welt, ist seitdem für uns Deutsche untrennbar sowohl mit diesem Begriff wie der damit beschriebenen Fortbewegungsart verbunden, dem Spazierengehen. – Und es bedeutet eine unfassbare Dreistigkeit, den Spaziergang für das genaue Gegenteil zu kapern, zu okkupieren für Wahrheitsverdrehungen und Verschwörungstheorien, die den Geist vernebeln und den Blick auf die Wirklichkeit systematisch verstellen.

Dass Sprache als Instrument zur Verschleierung und Verzerrung der Wirklichkeit dienen kann, ist aus der jüngeren deutschen Geschichte wohl bekannt: Es waren die Nazis, die ihr mörderisches und brandstifterisches Pogrom an den deutschen Juden im November 1938 mit dem extrem verharmlosenden Begriff der „Reichskristallnacht“ unter die Leute brachten. – Ähnlich verharmlosend ist es, wenn jetzt die Coronaleugner und Impfgegner ihr kriminelles Tun zu „Spaziergängen“ umdeuten: Denn das, was sie als „Spaziergang“ bezeichnen, ist eine nicht gemeldete und nicht genehmigte Demonstration. Mithin eine Straftat.

Mit der Verwendung des Begriffs „Spaziergang“ vereinnahmen sie überdies aber auch ganz gezielt eine revolutionäre Tradition der jüngsten deutschen Geschichte. Die „Montagsdemonstrationen“ der DDR-Bürgerrechtsbewegung, im Volksmund auch „Montagsspaziergänge“ genannt, trugen 1989 entscheidend mit zum Kollaps des DDR-Regimes bei. Dass die „Pegida“-Bewegung bereits 2014 die „Montagsspaziergänge“ ebenso wie deren Parole „Wir sind das Volk“ für ihre rassistischen Umtriebe in Beschlag nahm, macht den jetzigen Etikettenschwindel der Impfgegner nicht besser. Es zeigt im Gegenteil, wes Geistes Kind eine nicht unerhebliche Zahl der Demonstranten ist.

Wir sollten öfter spazieren gehen. Dabei im Sinne des Soziologen Lucius Burckhardt unseren Blick weiten für die Wirklichkeit um uns. Vielleicht wird uns das auch die Augen öffnen für den  sprachlichen Etikettenschwindel der Wirklichkeitsverleugner.

WDR 3 Resonanzen 30. Dezember 2021