Wer Sorgen hat, hat auch Likör

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Eines der Vorhaben, mit denen die Ampelkoalition schon während der Koalitionsverhandlungen für Aufmerksamkeit sorgte, war, Cannabis zu legalisieren. Das will die Koalition nach ihrer Amtsübernahme zwar immer noch, hat es mit einem entsprechenden Gesetzesvorhaben aber jetzt doch nicht mehr so eilig. Priorität habe der Kampf gegen die Pandemie, sagen FDP- und SPD-Gesundheitspolitiker: Aktuell sei es kein guter Zeitpunkt für einen entsprechenden Gesetzesentwurf. – Wenn nicht jetzt, wann dann, möchte man entgegnen. Denn liegt nicht auf der Hand, dass in Krisenzeiten wie dieser die Menschen vereinsamen und der Rausch oft ihr einziger Trost ist? Ganz so einfach scheint es nicht zu sein.

„Es muss ein jeglich Land seinen eigenen Teufel haben und unser Deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauff heißen“, fluchte Martin Luther schon im 16. Jahrhundert. Dem Jahrhundert, in dem den Historikern zufolge in Deutschland so viel gesoffen wurde wie in keinem anderen zuvor und danach. Sie sehen die Ursache für das Bedürfnis der Deutschen nach Rausch und Kontrollverlust in der Krisenhaftigkeit dieses Jahrhunderts: Religiöse und soziale Verwerfungen, Bürgerkriege und nicht nachlassende Pestwellen erschütterten und bedrohten alle Lebenssicherheiten so stark wie noch nie zuvor.

Treibt uns die andauernde Coronakrise jetzt auch allmählich in den Alkoholismus? Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim geht davon aus, dass seit Beginn der Covid-19-Pandemie der Alkoholkonsum bei mehr als einem Drittel der Erwachsenen deutlich gestiegen ist. Und zwar besonders bei den Menschen mit einem geringeren sozialen Status. Für viele dieser Menschen sei die Coronakrise eine emotionale Krise: Der Arbeitsplatz wird unsicher, das Eingesperrtsein in kleinen Wohnungen im Lockdwon, die Versorgung der Kinder im Homeschooling überfordert sie. Alkohol scheint da vielen ein Mittel, Stress und existentielle Sorgen zumindest kurzfristig zu lindern.

Gegen die naheliegende Vermutung, dass gesellschaftliche Krise und Flucht in den Rausch quasi naturwüchsig zusammengehören, spricht, dass der durchschnittliche Alkoholkonsum in Deutschland im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie insgesamt gleich geblieben ist. Das liegt daran, dass andere Gruppen in der Gesellschaft während der Krise weniger getrunken haben. Geselligkeits- und Partytrinker reduzierten ihren Konsum – mangels Gelegenheit. Der Bierumsatz ist deutlich gesunken. Dafür setzte der Einzelhandel mehr Wein und Schnaps um. Bei den Zuhause-Trinkern.

Nicht der Rausch an sich wird in Krisen wie dieser zum Problem, sondern die Vereinsamung und die Einsamkeit derjenigen, die den Rausch suchen. Das heißt: Krisen wie diese verschärfen die existentiellen Probleme von Einzelnen, sie offenbaren die Vereinsamung und die Einsamkeit einer Vielzahl von Menschen in dieser Gesellschaft. Daten der Kaufmännischen Krankenkasse KKH zeigen, dass die Zahl der sogenannten Rauschtrinker deutlich gestiegen ist. 2020, im ersten Jahr der Pandemie, rund ein Drittel mehr Versicherte wegen einer Abhängigkeit, Entzugserscheinungen, wegen eines akuten Rausches oder psychischer Probleme aufgrund von Alkohol ärztlich behandelt als zehn Jahre zuvor.

Die Menschen im 16. Jahrhundert versuchten sich die Krise noch in den Wirtshäusern, im kollektiven Besäufnis wegzutrinken. Entbunden aus dem Ritus, ist nicht nur das Saufen eine verdammt einsame Sache geworden. Auch das Bewältigen von Krisen.

WDR 3 Mosaik 3. Januar 2022