Volker Kutscher, Mitte

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Volker Kutscher. Mitte. Illustriert von Kat Menschik. Galliani Berlin. 120 Seite. 20 Euro

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Acht Rath-Romane hatte Volker Kutscher bisher geschrieben: Geschichten um den Kriminalkommissar Gereon Rath, die im Berlin der späten 1920er und frühen 30er Jahre spielen. Die letzten hießen „Marlow“ und „Moabit“. Der neueste, neunte Rath-Roman heißt „Mitte“. Doch Gereon Rath spielt in ihm keine Rolle. Stattdessen ist sein Ziehsohn Fritz Thormann in den Mittelpunkt des Romangeschehens gerückt. Fritz, das wissen die Rath-Fans, hatte kein gutes Verhältnis zu Gereon. Weil er gegen dessen Willen in die Hitlerjugend ging. Und an den „Führer“ glaubt er irgendwie immer noch in „Mitte“, obwohl er von der Gestapo verfolgt wird. – Wieder einmal hat es Volker Kutscher verstanden, den Figuren in seinen historischen Romanen eine große Authentizität zu verleihen.

Fritz Thormann, der Ziehsohn von Gereon Rath, war bisher eher eine Randfigur in der Romanwelt, die Volker Kutscher um den Kriminalkommissar Gereon Rath im Berlin Anfang der 1930er Jahre gebaut hat. Hier, im neuen Buch Kutschers, ist er die Hauptfigur eines nervenzerreißenden Romangeschehens. – Man muss nicht unbedingt die Vorgeschichte des Vorgängerromans „Olympia“ kennen; in kurzen Rückblenden wird sie hier nacherzählt: Fritz, der sich eh nicht gut mit seinem Ziehvater verstanden hatte, weil er gegen dessen Willen in die Hitlerjugend eintrat, wird während der Olympischen Spiele 1936 in einen Mord verwickelt und gerät ins Visier der Gestapo. Der gerade 16-jährige muss abtauchen, ebenso seine jüdische Freundin Hannah. Jetzt, in der neuen Geschichte, hat Fritz unter falschem Namen und mit falschen Papieren eine Arbeitsstelle bei einer Kohlenhandlung in Berlin-Mitte gefunden, Hannah arbeitet unter ebenfalls falschem, „arisierten“ Namen als Verkäuferin in Breslau. Über postlagernde Briefen bleiben sie in geheimem Kontakt. 

So ist es doch mit uns beiden: Solange wir nur ein unauffälliges Leben leben und einer geregelten Arbeit nachgehen, wird niemand in unserer Vergangenheit wühlen. Du und ich, wir haben eines gemeinsam: Wir müssen beide geradewegs nach vorne schauen, dann wird es uns gut gehen. Die Zukunft hält ja noch viel Schönes für uns bereit, da bin ich mir sicher.

Die Leser sind sich allerdings recht bald gar nicht mehr sicher, ob so viel Optimismus angebracht ist. Denn beim Kohlenschleppen begegnet Fritz zufällig dem SS-Mann Rösler, den er für einen der Mörder im Olympiastadion hält. Rösler wird misstrauisch. Dennoch macht Fritz sich auf dessen Spur. Dabei wird er von Charlotte „Charly“ Ritter unterstützt, seiner vormaligen Ziehmutter und der großen Liebe Gereon Raths. Auch wieder auf dem Weg postlagernder Briefe hat er neu Kontakt zu ihr aufgenommen und sie um kriminalistische Hilfe gebeten. Denn sie arbeitet bei einer Privatdetektei. Sie findet heraus, dass Rösler tatsächlich an einem Mordkomplott der SS beteiligt war. Fritz schreibt ihr darauf entsetzt:

Das sind wirklich ungeheuerliche Vorgänge! Wenn der Führer wüsste, was da in seiner Organisation los ist! Bei der SA hat er ja damals durchgegriffen, das war nötig, aber von der SS hätte ich so etwas nie gedacht.

Fritz, der Protagonist von „Mitte“, wird von Volker Kutscher nicht als sterile Heldenfigur, sondern authentisch gezeichnet, als eingesponnen in die Umstände und das Denken seiner Zeit, die frühen Jahre der Naziherrschaft. Aber nicht nur damit stellt Kutscher seine überragende literarische Könnerschaft auf dem Gebiet des historischen Romans unter Beweis. Auch dadurch, dass er in dem als veraltet und behäbig geltenden Format des Briefromans eine Spannung aufzubauen vermag, die die Leser in Atem hält. Obwohl alles Geschehen allein aus der Perspektive des einsamen Briefschreibers Fritz erzählt wird, erleben wir es immer so, als wenn wir selbst dabei wären. Auch, als plötzlich der SS-Mann Rösler in Fritz‘ Firma auftaucht, sich dort um eine Stelle bewirbt und dann neben Fritz im Kohlenwagen am Steuer sitzt. Das kann nicht gut gehen. – Mehr wird nicht verraten, nur, dass wir ganz dringend auf die Fortsetzung warten.

WDR 5 Bücher 15. und 16. Januar 2022