Georges-Arthur Goldschmidt, Der unterbrochene Wald

Veröffentlicht in: Allgemein, Rezensionen | 0

Georges-Arthur Goldschmidt, Der unterbrochene Wald. Erzählung. Aus dem Französischen übersetzt von Peter Handke. Wallstein-Verlag. 133 S. 20 Euro

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-aktuelle-kultur/audio-georges-arthur-goldschmidt-der-unterbrochene-wald-100.html

George-Arthur Goldschmidts autobiografisches Schreiben kreist um seine Jugend: 1938 schicken die Hamburger Eltern den Zehnjährigen in ein französisches Internat. Dort schützt man ihn zwar vor den deutschen Häschern, unterzieht ihn aber regelmäßigen Prügelstrafen. Im „Unterbrochenen Wald“ erzählt er das als ein exemplarisches jüdisches Schicksal.

1938, im Alter von zehn Jahren, musste sich Georges-Arthur Goldschmidt von seinen Eltern trennen. Sie wollten ihn und seinen Bruder vor der gegen Juden gerichteten Verfolgung retten und schickten sie in ein französisches Internat. Dort schützte man ihn zwar vor den Nazi-Häschern, unterzog ihn aber wegen jeder Kleinigkeit demütigenden Prügelstrafen. – In seiner autobiografischen Erzählung „Der unterbrochene Wald“ interpretiert er diese Prügel mittels einer Wortschöpfung als „Heimwehschutz“.

Heimwehschutz. – Die Strafen, die ich da erlitt, weil ich ein unmöglicher Junge war, beschäftigten mich derart, dass ich mein Heimweh vergaß. Heimwehschutz. Dieses ständige Bestraftwerden und diese ständige Angst im Internat – da brauchte ich nicht an Heimweh zu denken. Heimwehschutz. Ich wurde vor dem Heimweh dadurch geschützt. Nicht das Heimweh ist ein Schutz, sondern Schutz gegen das Heimweh!

In Goldschmidts Erzählung mischen sich seine Erinnerungen an die Internats-Zeit immer wieder mit imaginierten Bildern, so, als lege er verschiedene Negative eines Films übereinander. – Bei einem Spaziergang durch einen Pariser Stadtwald werden beim Erzähler die aktuellen Eindrücke überblendet von Bildern aus seiner Vergangenheit.

Und augenblicklich sah er, mit äußerster Klarheit, jenen Wald wieder, den er in der Kindheit durchquert hatte mit seinem Vater: Hier erhob sich, zwischen dichter als sonst stehenden Buchen, ein senkrechter Stein, überzogen mit grünem Moos. Ein kleines Gitter umgab ihn, zum Teil schon in der Erde versunken. Es war ein Gedenkstein für einen da ermordeten jüdischen Hausierer. Immer wieder sah er den Hausierer über das Laub kriechen, mitsamt seinem Gewand, seiner Gestalt, seinem Gesicht, so als sei seine Angst im Moment des Todes derart stark gewesen, dass sie sich, Jahrhunderte später, eingrub in den Kopf des anderen.

Mittels seiner erzählerisch beeindruckenden Überblendungstechnik gelingt es George-Arthur Goldschmidts im „Unterbrochenen Wald“, sein eigenes Schicksal mit dem des vor Jahrhunderten erschlagenen jüdischen Hausierers zu verknüpfen und zu so etwas wie einer exemplarischen Existenz zu machen.

Ich habe eine schlimme Kindheit. Ab 1941 hatte ich nur noch Angst. Dann kamen die Deutschen. Es war eine verlorene Kindheit, aber auch eine – sie hat mich zu dem gemacht, der ich bin. Trotz allem. – Ich war ein unmöglicher Knabe. Ich muss entsetzlich gewesen sein. Ich heulte dauernd und ärgerte alle und sagte immer, was man nicht sagen sollte, ich war ein Rebell ohne zu wissen, dass ich einer war. 

„Der unterbrochene Wald“ ist eine aus der Erinnerung gespeiste Erzählung. Der Erinnerung an den Abschied von den Eltern. Auf dem Bahnsteig nahmen sie ihre Hüte ab und drehten ihre Köpfe so, dass sich die Brüder ihre Profile einprägen konnten. Sie haben sie nie mehr wiedergesehen. Die Mutter starb 1941. Der Vater überlebte das KZ Theresienstadt, starb aber schon 1949, bevor Goldschmidt ihn besuchen konnte. So spät erst wegen eines Erbschaftsstreites. Da war er schon Franzose, sozialisiert in der französischen Sprache, befreit von der „Nazisprache“ Deutsch, aber nicht befreit von Angst und vor allem von Schuld. – Was der Erzähler mit dem vor langer Zeit ermordeten Hausierer glaubt gemeinsam zu haben, ist ein fundamentales Gefühl von Schuld. Und auch dafür hat Goldschmidt eine Wortschöpfung gefunden: „Geburtsschuldig“.

Es ist eine Schuld, dass ich geboren wurde. So ein Scheiß-Jidd, – zuviel. Das meine ich damit. Ich habe immer das Gefühl, ich bin eine Überschuss-Existenz. Ich hab keinen Grund, dass ich da bin. Ich hab das Leben immer als das Herrlichste empfunden, was es überhaupt gibt. Leben ist doch herrlich! Wunderbar! Und dabei sagst du: Das darfst du eigentlich gar nicht! Du hast doch hier gar nichts zu suchen. Du bist doch schuldig.

Und trotzdem kann George-Arthur Goldschmidt jetzt, mit 94 Jahren, auf ein gelungenes Leben zurückblicken. Das verbrachte er zuerst als französischer Studienrat, dann als ein auf Französisch schreibender Übersetzer und inzwischen bekannter Autor. Am Ende seiner autobiografischen Erzählung „Der unterbrochene Wald“ deutet er an, wie ihm das trotz der demütigenden Erfahrungen im Internat dann doch noch gelingen wird.

Ich unterwarf mich physisch, aber geistig nie. Ich war immer im Widerspruch. Aber leiblich war ich ein Untertan, ließ ich mich schlagen, ohne mich zu sträuben. Aber bei mir sind Körper und Seele total dasselbe und total wieder getrennt. Ich bin kein Diener im Denken. Ich bin niemandem untertan. Sofort, wenn ich merke, da will mich jemand haben, da reiße ich sofort aus. Ich habe nie nachgegeben. Ich habe nie ein Zipfelchen meiner Persönlichkeit jemand anderem unterworfen.

WDR 5 Scala, 21. April 2022