9. November. Der „Schicksalstag“ der Deutschen

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Als es nach der Wiedervereinigung 1990 darum ging, den 17. Juni 1953 als Nationalfeiertag durch einen neuen abzulösen, war Günter Grass einer der wenigen Intellektuellen mit Gewicht, die sich für den 9. November aussprachen. Sein bestes Argument war, dass am 9. November 1989 die Mauer gefallen war. Das zweitbeste, dass am 9. November 1918 in Berlin die Erste deutsche Republik ausgerufen wurde, und das gleich zwei Mal. Das stärkste Argument dagegen war in der damaligen Debatte allerdings, dass am 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen in Brand gesteckt und hunderte Juden ermordet wurden. Das Gedenken an diesen Tag deutscher Schande sollte nicht durch einen nationalen Feiertag überdeckt werden. Dieses Argument setzte sich durch.

Ulrich Herbert war bis vor drei Jahren Professor der Neueren deutschen Geschichte und ist eine absolut zentrale Figur, wenn es um die historische Aufarbeitung der NS-Zeit geht. Ihm graust es bei der Bezeichnung des 9. November als „Schicksalstag“ der Deutschen. Für kitschig und fehlgeleitet hält er diesen Begriff. Denn es sei eher dem Zufall zu verdanken, dass auf diesen Tag so viele wichtige und ganz unterschiedliche und widersprüchliche Ereignisse fallen. Und für „Schicksal“ sei er als Historiker nicht zuständig.

Trotzdem, meint er, bietet sich der 9. November eigentlich an, eine Flasche aufzumachen und das Datum zu feiern, an dem die Mauer fiel und die Wiedervereinigung der Deutschen begann. – Aber würde einem nicht schon der erste Schluck im Halse stecken bleiben, wenn man sich daran erinnerte, dass am gleichen Tag 51 Jahre zuvor eine nicht unbeträchtliche Zahl von Deutschen die Synagogen niederbrannte und hunderte ihrer jüdischen Mitbürger ermordeten?

Denn der 9. November der sogenannten „Reichspogromnacht“ 1938 ist seit den 1980er Jahren ein wichtiger Tag der deutschen Gedenkkultur. Ein Tag, an dem es in der Tat nichts zu feiern gibt. – Aber muss man denn an einem Nationalfeiertag wirklich „eine Flasche aufmachen“, tanzen und feiern, so, wie es die Franzosen an ihrem 14. Juli, dem Tag ihrer Großen Revolution tun?

Nähme man allein einen anderen 9. November in den Blick, den des Jahres 1918, wäre nichts dagegen einzuwenden. Denn an diesem 9. November 1918 wurde in Berlin die erste deutsche Republik ausgerufen. Und die ist etwas, auf das die Deutschen wirklich stolz sein können. Obwohl sie bekanntlich nicht ewig dauerte. Aber schaut man auf sie nicht nur von ihrem Ende her, war diese Republik eine durchaus wehrhafte Verteidigerin der Demokratie. Die es zum Beispiel an wieder einem anderen 9. November schaffte, dem des Jahres 1923, den sogenannten Hitlerputsch zu einer lächerlichen Farce zu machen.

Trotzdem, so richtig zu feiern gibt es für uns Deutsche an unserem Nationalfeiertag nichts. Das war schon beim alten Termin, dem 17. Juni 1953 so und auch nicht am neuen, dem 3. Oktober 1990. Wer macht schon bei der Erinnerung an eine dröge Vertragsunterzeichnung zur Eingliederung des einen in einen anderen Staat eine Flasche auf? Um vom Tanzen zu schweigen. Der 3. Oktober ist ein Tag von Staatsempfängen. In der deutschen Bevölkerung genießt der deutsche Nationalfeiertag, außer dass er „arbeitsfrei“ ist, keinerlei Respekt.

Das könnte sich beim 9. November ändern. Wenn wir schon nichts wirklich zum Feiern haben, so haben wir dann doch reichlich viel zum Erinnern. Das Erinnern an unsere einzige erfolgreiche Revolution 1918 und die daran anschließende erste Demokratie schließt das an die 1938 beginnende Barbarei nicht aus. Und die Erinnerung an den Mauerfall schließlich hält das Bewusstsein dafür wach, dass Demokratie etwas ist, das erkämpft und immer wieder verteidigt werden muss.

WDR 3 Mosaik 9. November 2022