Üble Nachrede

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In diesen Tagen jährt sich zum ersten Mal, dass Angela Merkel nach 16 Jahren vom Amt der Bundeskanzlerin zurücktrat. Der Abschied damals vollzog sich voller Wehmut, den Deutschen schienen der unaufgeregte Regierungsstil und auch die bescheidene Persönlichkeit Merkels ans Herz gewachsen. Selbst das Neue Deutschland trauerte ein halbes Jahr später noch über das „große Loch“, das sie in „unseren Herzen und Seelen hinterlassen“ hätte. Die Anerkennung war ihr gewiss, auch, wenn jedefrau und jedermann wusste, welch ein ausgesprochen kalkulierender Machtinstinkt diese Politikerin immer geleitet hatte. Denn die Verdienste bei ihren mannigfachen Krisenbewältigungen schienen zu überwiegen und der Tenor zu ihrem Abschied war: „Wir werden Angela Merkel noch vermissen.“ – Umso erstaunlicher ist jetzt, wie rapide, schnell und tief Angela Merkel in der Publikumsgunst gefallen ist. Nach einer Umfrage vom 24. November 2022 wollen sie erstaunliche 71 Prozent der Deutschen nicht mehr zurück. Nur noch 43 Prozent der Befragten halten sie für eine bessere Kanzlerin als ihren Nachfolger. – Woher kommt dieser Stimmungsumschwung zuungunsten Angela Merkels?

Im Nachhinein Fehler einzugestehen, ist einer der raffiniertesten Tricks von Politikern, um sich die eigenen Hände in Unschuld waschen – die Schuld letztlich aber anderen zuschieben zu können. Ein Meister solch diabolischer Rhetorik war und ist immer noch Wolfgang Schäuble. In Bezug auf die von ihm mit verantwortete Russlandpolitik sagte er kürzlich im Handelsblatt, sei er „wütend“ auf sich. „Man“ habe es doch wissen können. In das „man“ einbezogen ist da natürlich in erster Linie die Kanzlerin Angela Merkel. Er sei sehr befremdet darüber, fährt er fort, dass sie ihrerseits keine Fehler ihrer Russlandpolitik eingestehe. Deshalb stehe sie auch nicht auf seiner Liste der großen Kanzler der Republik.

Das ließe sich als die Rache des klitzekleinen Mannes abtun. Aber es scheint System zu haben: Noch kein Jahr ist seit ihrem Abschied vorbei, und schon zerreißt sich die halbe Republik das Maul über Angela Merkel. Im Fokus dieser nachträglichen Kritik stehen zwangsläufig die Fehleinschätzungen der von ihr geführten Regierungen mit Blick auf die Abhängigkeit von Russland: Um an billige russische Rohstoffe zu kommen, hätten sie die Augen vor dem Aggressionspotential Putins verschlossen. Selbst nach der Annexion der Krim sei Angela Merkel noch eine unbelehrbare Verfechterin des Nord Stream 2-Projekts geblieben.

Unter den Tisch gekehrt wird dabei, dass sie nicht die einzige Befürworterin von Nord Stream 2 war. Es gab da noch viel mehr und viel verbissenere Fans, – erinnert sei etwa nur an die Mecklenburgische SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. – Diejenigen, die jetzt ihre auf Russland bezogene außenpolitische Blindheit auf Angela Merkel projizieren, können sich bequem hinter dem Rücken der Ruheständlerin verstecken. Die Masche Schäuble eben. 

Und nach der gleichen Masche werden nun auch noch all die anderen – tatsächlichen oder vermeintlichen – Fehler oder Fehleinschätzungen der Altkanzlerin ins Licht gestellt. Allem voran natürlich ihre Flüchtlingspolitik im Jahr 2015. An der Kritik daran kann die Opposition immer noch lustvoll das Mütchen ihres ausländerfeindlichen Ressentiments kühlen. 

Selbstverständlich war Angela Merkels Kanzlerschaft alles andere als fehlerfrei und im Rückblick hätte sie vieles nicht nur anders, sondern auch viel besser machen können. Darum geht es aber denen nicht, die ihr jetzt Fehler vorwerfen. Und weil es ihnen eigentlich um die eigene Exkulpierung geht, ärgert sie besonders, dass sie sich beharrlich weigert, öffentlich eigene Fehler einzugestehen. Doch sie ärgern sich zu Unrecht. Hinter dieser vermeintlichen Verstocktheit könnte doch die Absicht stehen, diejenigen zu schützen, die an ihren Entscheidungen beteiligt waren.

WDR 3 Mosaik, 2. Dezember 2022