Wahlgerechtigkeit?

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Nach langem Hin und Her und erst, nachdem das Bundesverfassungsgericht mehrfach darauf gedrängt hatte, kamen die Bundestagfraktionen mit Vorschlägen herüber, wie das Parlament auf die verfassungsgemäße Größe von 598 Sitzen verkleinert werden soll. Ihre Vorschläge wurden am Freitag im Plenum in Erster Lesung zur Diskussion gestellt. Der der Regierungskoalition läuft darauf hinaus, die Direktmandate quasi abzuschaffen, so, dass es in Zukunft weder sog. Überhang- noch Ausgleichsmandate geben wird. Sie sind der Hauptgrund für die Aufblähung des Parlaments auf derzeit 736 Abgeordnete. Die CDU/CSU- Opposition dagegen verteidigt das Modell mit Überhang- und Ausgleichsmandaten, denn sie profitiert am meisten davon.

Wer am Freitag die Bundestagsdebatte bei der Ersten Lesung über die Wahlrechtsreform live verfolgte, musste sich wundern, wo denn überhaupt das Problem mit einem „zu großen“ Bundestag sein sollte. Der Plenarsaal war höchstens zu einem Viertel besetzt. Die Mehrzahl der 736 Sessel blieb leer. Wie übrigens bei den meisten Plenardebatten des Deutschen Bundestages. Vor allem, wenn sie kurz vorm Wochenende stattfinden. Wenn aber noch nicht einmal ihr eigener Verbleib im Parlament die Abgeordneten in ihre Sessel lockt, – denn darum geht es ja auch bei der Wahlrechtsreform – welches andere politische Thema denn sonst?

Die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag sich selbst in der Merkel-Ära zum Akklamationsapparat der Regierung marginalisiert hat, enthebt ihn allerdings nicht der Pflicht, zumindest theoretisch das Wahlvolk zu repräsentieren. Und das auf eine möglichst gerechte Weise, so also, dass jede abgegebene Wählstimme sich adäquat in der Zusammensetzung des Parlaments niederschlägt. Das bisherige deutsche Wahlrecht tat das, soweit Gerechtigkeit im Wahlrecht möglich ist. Ob sie überhaupt möglich ist, lässt der Blick auf das britische Mehrheitswahlrecht, das ausschließlich den Gewinner begünstigt oder das veraltete und viel zu komplizierte amerikanische Wahlrecht sehr bezweifeln. Doch auch ein aufgeblähtes Parlament wie das deutsche garantiert zumindest die größtmögliche Annäherung an eine gerechte Repräsentanz.

Dass die Funktionsfähigkeit des Bundestages durch seine Größe beeinträchtigt wird, behaupten seit Jahren alle: Die Büros würden knapp und zu eng, die Ausschüsse zu unübersichtlich, die Redezeit der Abgeordneten reduziert. Bei einem häufig nur zu einem Viertel besetzten Plenarsaal fragt sich allerdings, wozu mehr Redezeit denn überhaupt gut sein sollte. Und den Parlamentsbetrieb billiger zu machen und gleichzeitig logistisch so zu optimieren, dass er auch bei hundert oder zweihundert Abgeordneten mehr als vorgesehen funktioniert, dürfte keine Raketenwissenschaft sein.

Das Hauptproblem eines möglichst gerecht gewählten Parlaments ist nicht seine Größe, sondern die Nähe oder Ferne der einzelnen Abgeordneten zum Wahlvolk: Können sie die Sorgen und Nöte ihrer Wähler aufnehmen und in die demokratischen Entscheidungen einbringen? Hier unterscheiden sich die beiden im Bundestag zur Abstimmung stehenden Wahlrechtsvorschläge erheblich: Die von CDU/CSU vorgeschlagene Verminderung derAnzahl der Wahlkreise würde den Umfang der verbleibenden erheblich erweitern. Und damit zwangsläufig auch die Distanz zwischen den Abgeordneten und den Wählern vergrößern. Die vor allem von der CSU verteidigten Direktmandate dagegen sind ein Mythos. Zumindest die behauptete Nähe des direkt gewählten Kandidaten zu seinen Wählern. Er repräsentiert durchschnittlich nämlich prozentual nicht mehr Wähler als ein über die Landesliste gewählter Kandidat. Warum er sich dann mehr um sein Wahlvolk kümmern sollte als ein solcher Parlamentarier, ist kaum ersichtlich.

Absolute Gerechtigkeit kann kein Wahlrecht garantieren. Auch nicht der Vorschlag von der regierenden Ampel-Koalition, weitgehend auf Direktmandate zu verzichten und damit das Verhältniswahlrecht zu stärken. Das wird zwar dem vergrößerten Meinungs- und Parteienspektrum Deutschlands gerechter als das alte Wahlrecht. Er vermindert aber das Gefühl der Wähler, mit ihrem Lieblingskandidaten mehr Einfluss auf die Bundespolitik nehmen zu können. Ob das mehr Wähler an die Urnen bringt, ist zu bezweifeln.

WDR 3 Mosaik 30. Januar 2023