Die grässliche Bescherung in der Via Merulana von Carlo Emilio Gadda

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Carlo E. Gadda: Die grässliche Bescherung in der Via Merulana. Mit einem Nachwort von Anna Vollmer. Aus dem Italienischen von Toni Kienlechner. Wagenbach 2023. 352 Seiten. 26,– €

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Klaus Wagenbach und seinem Verlag kommt das Verdienst zu, Carlo Emilia Gadda und seine außerordentliche Bedeutung für die italienische und europäische Literatur in Deutschland publik gemacht zu haben. Deshalb erscheint jetzt in diesem Verlag in einer neuen Auflage seine „Grässliche Bescherung in der Via Merulana“. An der ersten Übersetzerin – Toni Kienlechner – hat der Verlag festgehalten. Ihr großes Sprachtalent ermöglicht eine anschauliche Übertragung der im Roman verwendeten verschiedenen italienischen Dialekte.


Drei Wochen, nachdem Commissario Ingravallo bei den reichen Balduccis zum Essen eingeladen war, ruft man ihn dienstlich in deren Wohnung. Liliana, die Hausherrin, liegt mit durchtrennter Kehle im Salon. Neben ihr kniet ihr Neffe, er hat die Ermordete gefunden. Ingravallo verhaftet ihn. Weil er selbst von der erotischen Ausstrahlung Lilianas gefangen war, vermutet er ein Liebes-Verhältnis zwischen Neffen und Tante.

Zwar scheint die weitere Handlung des 1957 erschienenen Romans seine Einordnung als Krimi zu bestätigen: Spuren werden verfolgt, Zeugen und weitere Tatverdächtige verhört. Doch spätestens ab der Mitte ufert die Spurensuche aus, gleichzeitig steigt die Zahl der mit dem Fall beschäftigten Kriminalisten an, sodass von einem gewöhnlichen „Who-done-it“ nicht mehr die Rede sein kann.

Den hatte der Autor auch gar nicht im Sinn. Gadda benutzte lediglich die traditionelle Krimiform, um ein Porträt der römischen und italienischen Gesellschaft zur Zeit des Faschismus zu zeichnen. Sowohl die im Mietshaus in der römischen Via Merulana wohnende reiche Elite wie deren aus der südlichen Provinz stammende Dienstboten und deren Lebensumwelt nimmt er ins Visier. Dabei verfolgt er nicht nur soziologische Interessen, sein Hauptaugenmerk liegt auf der Sprache seiner Protagonisten.

Überdies ist Gaddas Roman der wohl erste „Kriminalroman“, der gleichzeitig auch als eine Art literarisches Labor gedacht war, ein Experiment mit unterschiedlichen Erzählformen, überraschenden Perspektivwechseln und einer überwältigenden Fülle umgangssprachlicher Ausdrucksformen. Ein Meilenstein nicht nur der Krimi-, sondern auch der neueren italienischen Literatur.

WDR5 Bücher 1. April 2023